Wegen Krieg abgesagt.
So in etwa lautet wohl die kurze Begründung, warum die Ukraine ihre Wahlen nicht durchführt. Laut ukrainischer Verfassung müssten die nächsten Parlamentswahlen am 29. Oktober und Präsidentschaftswahlen im März 2024 stattfinden – doch es ist kompliziert.
Soldat:innen kämpfen an der Front, Millionen von Ukrainer:innen befinden sich auf der Flucht, haben das Land verlassen. Verbliebene werden durch russische Raketenangriffe terrorisiert, morgen könnte der letzte Tag sein. Ein Land kämpft ums Überleben – ist da noch Zeit für Wahlen?
"Unter den derzeitigen Umständen würde die Organisation freier und fairer Wahlen eine große Herausforderung für die Ukraine darstellen und ein hohes Sicherheitsrisiko dazu", sagt Anastasia Pociumban von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik auf watson-Anfrage.
Die Politikwissenschaftlerin ist gerade aus der Ukraine zurückgekehrt, wo sie dieses Thema ausführlich mit Vertreter:innen der Behörden, der Opposition und der Zivilgesellschaft erörtert hat. "Die Argumente gegen die Abhaltung von Wahlen in naher Zukunft sind ziemlich überzeugend", meint sie.
Aufgrund des russischen Angriffskrieges steht die Ukraine seit Februar 2022 unter Kriegsrecht. Damit sei die Gewährleistung sicherer, demokratischer und umfassender Wahlen sehr schwierig. "Um überhaupt Wahlen abzuhalten, müsste die Ukraine das Kriegsrecht ändern oder aufheben", erklärt Pociumban.
Denn: Mit dem Kriegsrecht gibt es Einschränkungen der Rede- und Meinungsfreiheit, der Medienfreiheit und der Bewegungsfreiheit. "In diesem Kontext wäre es schwierig, freie Wahlen zu garantieren", führt sie aus. Darüber hinaus wäre es im Moment ihr zufolge sehr kontraproduktiv, die Bemühungen in einen politischen Wettbewerb zu lenken, anstatt sich auf die Bekämpfung des Angreifers zu konzentrieren.
Etwa 6,2 Millionen Ukrainer sind Pociumban zufolge aus dem Land geflohen, dazu kommen rund 5,1 Millionen Binnenflüchtlinge. Die Registrierung der Wählenden wäre ein schwieriges und teures Unterfangen. Die Ukraine bräuchte die Unterstützung jener Länder, die ukrainische Geflüchtete aufgenommen haben, erklärt die Expertin.
Noch schwieriger wäre der Urnengang mitten an der Front.
Die Stimmabgabe an der Front wäre eine große Sicherheitsherausforderung, so könnten die Wahllokale ein direktes Ziel für russische Angriffe werden, sagt Pociumban. "Wahlen in den Schützengräben sind so gut wie unmöglich", meint auch Politikwissenschaftler und Osteuropa-Experte Andreas Umland auf watson-Anfrage.
Der Analyst des Stockholm Centre for Eastern European Studies führt aus:
Dazu kommen auch die Ukrainer:innen, die in den derzeit besetzten Gebieten leben – auch sie wären von den Wahlen ausgeschlossen. "Es gibt demnach sehr viele Gegenargumente für die Wahlen", sagt er.
Um es mit Pociumbans Worten zu sagen: Die Ukraine habe jetzt Besseres zu tun, als Wahlkampf zu führen.
"Er würde vom Kampf gegen die russische Aggression ablenken, eventuell zu politischen Streitigkeiten führen", sagt die Politikwissenschaftlerin. Nicht zuletzt bedeute die Durchführung von Wahlen hohe finanzielle und personelle Kosten, die man lieber in die Abwehr gegen den russischen Aggressor stecken sollte. Ein Argument, das wohl nicht jeder vertritt. Die Ukraine erhält auch heftigen Gegenwind für die Entscheidung, vorerst keine Wahlen durchzuführen.
"Wahlen sind ein wichtiger Bestandteil der Demokratie, aber es verstößt nicht gegen internationale Standards, während eines Krieges keine Wahlen abzuhalten", erklärt Pociumban. Die internationalen Standards erkennen an, dass es unter außergewöhnlichen Umständen – wie etwa bei bewaffneten Konflikten – nötig sei, Wahlen vorübergehend auszusetzen.
Zudem würde sich wohl nicht viel ändern in der politischen Landschaft der Ukraine.
"Wenn man sich die Umfrageergebnisse anschaut, dann würde es keine prinzipiell neuen politischen Konstellationen in der Ukraine geben", sagt Umland. Sprich, es würde auch keinen neuen Präsidenten geben. Denn: "Es gibt keinen Konkurrenten, der annähernd die Popularität von Selenskyj hat", meint der Experte.
Die einzige öffentliche Figur, die ihm das Wasser reichen könnte, wäre derzeit der ukrainische Generalstabchef Walerij Saluschnyj. Er sei mittlerweile populär geworden, zeige bisher aber keine politischen Ambitionen, sagt der Experte.
Im Parlament würde sich wahrscheinlich die Verteilung der Fraktionen ändern. Womöglich würde Selenskyjs Partei "Diener des Volkes" keine absolute Mehrheit mehr erhalten. "Aber im Wesentlichen würde sich an der Gesamtkonstellation in der ukrainischen Politik nicht viel ändern", sagt Umland.
Die Kritik von russischer Seite an den verschobenen Wahlen kann man laut Umland vernachlässigen. Russland füttere damit die Propagandamaschinerie. "Am Ende ist der Kreml der Hauptgrund, warum die Wahlen nicht stattfinden", sagt Umland. Was ihn mehr beunruhigt, seien kritische Stimmen aus dem Westen, die nun die Demokratie der Ukraine anzweifeln.
Grundlos, wie er meint.
"In der Ukraine gab es bis zum Kriegsbeginn im Februar 2022 regelmäßige sowie auch unregelmäßige Wahlen – beinahe zu viele könnte man sagen", führt Umland aus. So wurde auch 2014 gewählt, als Russland die Krim und Gebiete in der Ostukraine besetzte. Was in Grunde genommen auch schon eine unvollständige Wahl gewesen sei. "Die Ukraine hat viele Probleme, aber Wahlen und politischer Pluralismus gehören nicht dazu", betont der Politikwissenschaftler.
Kritiker:innen argumentieren: Was ist, wenn die Menschen in der Ukraine die harte Linie von Selenskyj nicht mehr fahren wollen und für Verhandlungen mit Russland offen wären?
Dass auf einmal gemäßigte Kräfte Selenskyj Konkurrenz machen, ist laut Umland ein Hirngespinst. Die prorussischen Parteien seien von der ukrainischen Bildfläche verschwunden. Mehr als 80 Prozent der Ukrainer:innen sind ihm zufolge zu keinerlei Gebietsabtretung bereit und wollen einen Sieg. "Der einzige seriöse Gegenkandidat wäre momentan wohl Petro Poroschenko und der kritisiert Selenskyj von rechts", meint Umland.
Sprich, Poroschenko halte den ukrainischen Präsidenten für zu schwach im Umgang mit Russland. "Das wäre dann der reale politische Wettbewerb in der Ukraine", sagt er. Also eher der Wunsch der Wählenden nach einem härteren Kurs gegen den russischen Aggressor.
Allerdings kann sich der Krieg noch Jahre hinziehen. Irgendwann steige der Druck, Wahlen abzuhalten, meint Jan-Philipp Wölbern, Leiter des Auslandsbüros Ukraine für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung.
Die demokratische Legitimation des Parlaments und des Präsidenten beruhe schließlich auf freien Wahlen. "Die Unterstützung der Ukraine durch ihre westlichen Partner erfolgt unter der Voraussetzung, dass sich das Land weiter auf einem demokratischen Entwicklungsweg befindet", führt Wölbern gegenüber watson aus.
Andererseits betont auch er die Schwierigkeiten bei der Durchführung. Hinzu komme der Versuch Russlands, die Wahlen massiv zu stören. Ihm zufolge müssten die westlichen Partner der Ukraine hier ihre Unterstützung anbieten, sei es durch finanzielle oder organisatorische Hilfen. Schließlich liege es im westlichen Interesse, dass die Demokratie in der Ukraine auch unter Kriegsbedingungen fortbesteht.