
Der Grüne Bunker in Hamburg stammt aus dem Zweiten Weltkrieg und ist heute ein öffentlicher Stadtgarten. Bild: imago images/ xim.gs
Analyse
Ein nationales Schutzraumkonzept soll eine Million Zufluchtsorte schaffen. Doch Katastrophenforscherin Dr. Cordula Dittmer warnt: Schutz ist nicht nur eine Frage von Beton.
08.07.2025, 07:5408.07.2025, 07:54
Am Ende weiß es natürlich niemand. Plant Russland tatsächlich einen Angriff, wenn schon nicht direkt auf Deutschland, dann zumindest auf Litauen oder Polen? Muss man sich hierzulande vorbereiten auf einen Krieg, logistisch, personal, mental? Könnte das wirklich, "der letzte Sommer des Friedens sein", wie Militärhistorikers Sönke Neitzel prophezeit und liegt Bundeswehr-Generalinspekteur Carsten Breuer mit seiner Prognose richtig, wenn er meint, dass Russland 2029 "einen großmaßstäblichen Krieg führen" kann?
Das Gefühl von Sicherheit hat sich verändert. Bundeskanzler Friedrich Merz sagte zuletzt gar: "Russland greift uns heute schon an". Wie also vorbereitet sein, für den Notfall, den Kriegsfall, als Gesellschaft, als Staat, als Stadt?
BBK stellt Schutzraumkonzept vor
Eine offizielle Antwort darauf gibt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Auf Anfrage von watson bestätigt die Behörde: Gemeinsam mit Bund und Ländern wird derzeit ein nationales Schutzraumkonzept entwickelt. Das Ziel: möglichst schnell eine Million Schutzplätze schaffen.
Nicht durch Neubauten, sondern durch die Umwidmung bestehender Infrastruktur – Tunnel, U-Bahnhöfe, Tiefgaragen, öffentliche Gebäude. "Neue Bunkeranlagen mit einem sehr hohen Schutzanspruch kosten viel Geld und Zeit", sagte BBK-Präsident Ralph Tiesler jüngst der "Süddeutschen Zeitung". "Wir benötigen eine schnellere Lösung."
Geplant ist laut BBK ein mehrstufiges Verfahren: Zunächst sollen geeignete öffentliche und private Gebäude systematisch erfasst werden. Darauf aufbauend wird ein digitales Verzeichnis entwickelt, über das Bürger:innen Schutzorte auf ihrem Handy lokalisieren können.
Dazu kommen Handlungsempfehlungen zur Herrichtung von Kellerräumen. Erste Informationsprodukte soll es noch in diesem Jahr geben, und ab 2026 eine Pilotförderung für die Ausstattung dieser Zufluchtsorte. Wasser, Feldbetten, mobile Toiletten: Was Menschen in solchen Situationen tatsächlich brauchen, will man zunächst im Feldversuch ermitteln. Auf Grundlage konkreter Erfahrungswerte möchte man 2027 hochskalieren.
Die Maßnahmen beziehen sich ausschließlich auf öffentliche Zufluchtsorte – für private Schutzräume seien gesonderte Konzepte vorgesehen.
Sind die Pläne vom BBK sinnvoll? Oder realistisch?
Aber ist das durchdacht? Oder ausreichend? Und ist die zeitliche Perspektive überhaupt realistisch?
Anruf bei Dr. Cordula Dittmer. Sie ist Katastrophenforscherin an Akademie der Katastrophenforschungsstelle in Berlin. Die Pläne vom BBK? "Absolut sinnvoll." Die Bedrohungslage sei real, das sicherheitspolitische Klima fragil – und doch mangele es vielerorts noch an der Infrastruktur für den Ausnahmezustand. "Viele U-Bahnhöfe funktionieren schon im Alltag nicht zuverlässig."

Dr. Cordula Dittmer arbeitet an der Akademie der Katastrophenforschungsstelle. bild: AKFS
Wer solche Orte zu Schutzräumen aufrüsten wolle, müsse zunächst erhebliche Summen investieren. Ralph Tiesler rechnet mit zehn Milliarden Euro in vier Jahren, in den nächsten zehn Jahren sogar mit mehr als 30 Milliarden Euro.
Vor allem aber muss man wissen, wer dafür zuständig ist, sagt Dittmer. Genau daran hapere es. Die meisten Schutzräume gehören nicht dem Bund, sondern Städten, Gemeinden oder Privatpersonen. Der Bund verfügt meist nur über ein grundbuchlich gesichertes Nutzungsrecht im Rahmen des Zivilschutzes.
Entsprechend fraglich ist auch, ob der eng getaktete Zeitplan des BBK (erste Pilotprojekte 2026, skalierte Umsetzung 2027 bis 2029) eingehalten werden kann. "Die föderale Struktur in Deutschland verlangsamt solche Prozesse", sagt Dittmer. Eigentumsverhältnisse, Bauvorschriften, Ressourcenengpässe, Firmen mit entsprechendem Know-How. Die Frage sei, was man unter Skalierung verstehe, insgesamt sei der Zeitplan aber "sehr ambitioniert".
Darum, sagt Dittmer, müsse man alle Optionen in den Blick nehmen: Bunker, vorhandene Infrastrukturen – und auch private Keller. Letzteres sei in Friedenszeiten zwar schwierig, weil Eingriffe ins Privateigentum sensibel seien. "Aber man könnte Anreize schaffen – etwa für Vorräte oder bauliche Maßnahmen im eigenen Keller."
Ukraine und Israel leben Dual-Use-Konzepte vor
Derzeit stehen von ursprünglich 2000 nur noch 579 Bunkerräume in Deutschland zur Verfügung. Darin könnten aktuell knapp 480.000 Menschen Zuflucht finden. Hintergrund ist die Entscheidung des Bundes aus dem Jahr 2007, im Geist der Friedensdividende das Schutzraumkonzept aufzugeben und bestehende Anlagen schrittweise außer Dienst zu stellen. Aber wie müssten solche Schutzanlagen überhaupt aussehen?
Schutzräume müssten sich an klassischen Bunkeranlagen orientieren, erklärt Dittmer. Sanitäre Einrichtungen, Essensversorgung, Schlafplätzen, auch Kinderecken oder Rückzugsräume. Parkhäuser seien dafür sicherlich besser geeignet als U-Bahnhöfe, dort könne man Zeltkabinen mit Trennwänden installieren. Entscheidend sei zudem die Möglichkeit zur Kommunikation, über Wlan oder Notfallkanäle.
In Ländern wie der Ukraine oder Israel gebe es längst sogenannte Dual-Use-Konzepte, bei denen etwa U-Bahnhöfe im Alltag genutzt und im Ernstfall umfunktioniert werden können. Wichtig auch: "Es ist nicht so gedacht, dass man dort drei Tage Bombenalarm übersteht." Es gehe um kurzfristige Zuflucht, zwei, drei Stunden.
Das hat vor allem damit zu tun, was für eine Art von Krieg man im Ernstfall erwartet. "Am wahrscheinlichsten ist, dass es einen Land- und Drohnenkrieg an der Nato-Ostflanke geben wird, Deutschland wäre im Verteidigungsfall ein logistisch wichtiges Drehkreuz, für Evakuierungen, Verwundetentransporte oder Flüchtlingsströme", sagt Dittmer.
Ein großflächiger Luftangriff sei unrealistisch und lasse sich ohnehin wirklich abdecken. Stattdessen wahrscheinlicher: gezielte Schläge auf Infrastruktur – Stromnetze, Verkehr, Kommunikation. Wie in der Ukraine.
Schweden und Finnland als Vorbild für Deutschland
Viele Bürger:innen gehen insgeheim davon aus, dass der Staat im Ernstfall für alle sorgen wird. Ein Irrtum, sagt Dittmer: "Die Wahrheit ist: Es wird nicht für jeden Menschen einen Schutzraum geben." Im Gesetz über den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe (ZSKG) sei lediglich festgelegt, "dass die staatlichen, behördlichen Maßnahmen die Selbstfähigkeit nur unterstützen". Im Ernstfall sei jeder Mensch selbst dafür verantwortlich, sich zu schützen.
Wer sich in Sicherheit bringen kann und wer nicht, ist in Deutschland aber auch eine Frage der Mittel. Eigentümer:innen können ihre Keller ausbauen, Mobilitätsgewinner den Schutzraum leichter erreichen.
Der Staat, sagt Dittmer, müsse sich überlegen, "wie man einen sozial gerechten Schutz gewährleistet und sich um jene kümmert, die auf Hilfe angewiesen sind: Pflegeheime, Krankenhäuser, Kitas." Wer sich selbst helfen kann, solle das auch tun, damit Ressourcen für die Schwächeren frei bleiben. "Ein einheitliches Konzept für alle wird nicht funktionieren."
Was bislang aber fehle, und das sei "ein viel größeres Problem, als nicht genug Schutzräume zu haben": ein ehrlicher gesellschaftlicher Diskurs. Der Staat sei kein Garant für Sicherheit, der Gedanke habe sich fälschlicherweise eingebürgert. In Deutschland, sagt Dittmer, leben viele noch mit der Illusion ewigen Fortschritts: "Ein Schutzraum bringt nichts, wenn niemand weiß, wie man sich darin verhält."
In Schweden gibt es das Konzept der Totalverteidigung, im Kriegsfall ist jeder Person eine Aufgabe zugeteilt, vom Krankenpfleger bis zur Lastwagenfahrerin, gleiches gilt in Finnland. Zivilschutz ist Teil der Alltagskultur. Und Schutzräume Symbol für den Zusammenhalt.
In Deutschland werde das Thema schematisch behandelt, sagt Dittmer, als Infrastrukturfrage, nicht als gesamtgesellschaftliches Projekt. Entscheidend sei, "ob die Menschen wissen, warum, wann und wie sie solche Orte nutzen sollen".