Kreml-Chef Wladimir Putin hat nur noch wenig Freunde auf der politischen Weltbühne. Während sich die USA und ihre Verbündeten zunehmend von ihm abkapseln, empfängt ein Nato-Mitglied Putin trotzdem mit offenen Armen. Auf Recep Tayyip Erdoğan ist offenbar Verlass.
Der türkische Präsident hat den verurteilten Kriegsverbrecher in die Türkei eingeladen. Berichten zufolge soll das Treffen am kommenden Montag über die Bühne gehen. Putin steht auf der internationalen Fahndungsliste wegen Russlands massenhaften Kindesentführungen in der Ukraine. Ob die Türkei ihn ausliefert? Wohl kaum.
Laut Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey verbindet Putin und Erdoğan inzwischen eine Männerfreundschaft.
"Die Herren ticken ziemlich ähnlich, was demokratisches Regieren und hegemoniale Ansprüche in der Regional- und Weltpolitik angeht", sagt Gürbey auf watson-Anfrage. Sie ist Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.
Ihr zufolge hat Putin bei seinem Besuch nichts zu befürchten. Denn: "Die Türkei hat das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nicht unterzeichnet. Außerdem ist es auch im Interesse des Westens – also der Triade USA, Nato und EU – dass die Türkei als Nato-Land den direkten Draht zu Russland hat", meint die Expertin. Erdoğan kann sich also erneut als Vermittler in Szene setzen, wie bereits beim Getreideabkommen zwischen der Ukraine und Russland.
Die Treffen zwischen Putin und Erdoğan häufen sich laut Gürbey seit August 2016. Seitdem baut der türkische Präsident die Beziehungen zu Russland sukzessiv aus. Nun werde die Türkei das erste Nato-Land sein, das Putin seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 besucht. "Damit kann Putin zeigen, dass er auf der internationalen Bühne nicht isoliert ist", sagt Gürbey.
Sie führt aus:
Eine Win-win-Situation für beide Machthaber. Für den außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU, Jürgen Hardt, ist "Putins Besuch in der Türkei für beide Seiten ein ziemlicher Fake".
Hardt betont ebenfalls, dass Putin international weitgehend isoliert sei. "Er muss jeden Strohhalm ergreifen, um international aufzutreten und Normalität zu fingieren. Politisch kann er aber von diesem Besuch nichts erwarten", meint der CDU-Mann. Denn: Türkische Waffen helfen der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf, daran werde der Besuch nichts ändern.
Aber auch Erdoğan spiele ein Spiel um die Fernsehbilder.
Hardt zufolge will Erdoğan mit Putins Besuch den Menschen in der Türkei vorgaukeln, dass er nicht auf die EU und die USA angewiesen sei. "Erdoğans Tanz zwischen den Welten mag in türkischen Kaffeehäusern auf dem Lande imponieren", meint der CDU-Politiker. Angesichts der massiven wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Probleme der Türkei führe an einem engen Verhältnis zum Westen aber kein Weg vorbei. Und Erdoğan wisse das.
"Erdoğans Zeit wäre besser in die Stärkung eines vertrauensvollen Verhältnisses zur EU und den USA investiert. Das wäre im Sinne der Türkei und ihrer Bevölkerung", sagt Hardt. Allerdings haben die USA oder der Westen aktuell wenig Ansehen innerhalb der türkischen Bevölkerung, erklärt Politikwissenschaftlerin Gürbey.
Im Gegenteil: Putin und Russland genössen ein nicht zu unterschätzendes Ansehen. Es gebe sogar teils Verständnis für den Angriffskrieg. "Mit Verweis darauf, dass die USA, Nato und EU diesen Krieg anstacheln, um Putin und Russland zu schwächen." Laut Nils Schmid, dem außenpolitischen Sprecher der SPD, ist sich Erdoğan der besonderen Stellung seines Landes innerhalb der Nato bewusst.
Schmid zufolge ist die Türkei an der Südostflanke der Nato ein unverzichtbarer Partner. "Dies verschafft Erdoğan einen gewissen Handlungsspielraum, den er sehr gut zu nutzen weiß. Allerdings ist die Umgehung der Sanktionen gegen Russland durch die Türkei ein ernstzunehmendes Problem", sagt er auf watson-Anfrage.
Schmid fordert:
Wenn es Erdoğan gelingen sollte, Putin substanzielle Zugeständnisse abzuringen, würde dies seinem internationalen Ansehen nutzen, führt der Sozialdemokrat aus. Realistisch sei dies aber nicht. "Putin ist niemand, der irgendwelche Zugeständnisse macht, ohne dafür einen Preis zu verlangen."
Es bleibe abzuwarten, ob es Ergebnisse des Gesprächs geben wird. "Aber in der Vergangenheit hat die Türkei durchaus eine konstruktive Rolle im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg gespielt", sagt Schmid. Laut ihm würde die EU etwa die Errichtung eines neuen funktionierenden Getreidekorridors und damit sicherer Schifffahrtswege durch das Schwarze Meer begrüßen.
Würde Erdoğan ein neues Getreideabkommen gelingen, könnte er damit die eigene Vermittlerrolle erneut untermauern, meint Expertin Gürbey. Das zeige auch: Die Türkei ist für den Westen strategisch unverzichtbar.
Dieses Vorgehen vergrößere den politisch-strategischen Handlungsspielraum des Landes. "Sprich, so gelingt es Erdoğan und seiner Regierung, die Ukraine mit militärischen Gütern zu unterstützen und gleichzeitig sich nicht an den westlichen Sanktionen gegen Russland zu beteiligen", sagt Gürbey.
Darüber hinaus gebe es energiepolitische Interessen, die die Türkei mit Russland verbindet.
"Zum einen bezieht die Türkei von Russland Erdgas, zum andere wollen beide Seiten die Türkei zu einem Transitzentrum für russisches Gas umbauen", sagt Gürbey. Russland würde sein Gas also über die Türkei in den Westen verkaufen – und die Türkei mitverdienen.
Nicht zuletzt seien beide Länder auch militärisch involviert in Syrien und im Kaukasus und hier gelte es, "strategische Interessen abzuwägen und Zweckbündnisse einzugehen", führt die Expertin aus. SPD-Politiker Schmid fügt an: "Die Türkei strebt etwa einen direkten Verkehrskorridor zu Aserbaidschan an." Davon erhoffe sich das Land eine bessere wirtschaftliche Erschließung für den Kaukasus und Zentralasien. Aber das gehe eben nicht ohne Russlands Zustimmung.
Für den außenpolitischen Sprecher der FDP, Ulrich Lechte, ist die Sache klar: "Der Besuch Putins in der Türkei ist eine bewusste Provokation." Dabei versuche Erdoğan, die Türkei erneut als globaler Vermittler zu stilisieren, sagt er auf watson-Anfrage.
In Wirklichkeit verfolge Erdoğan aber eigene opportunistische Ziele – nämlich, die Türkei als ein einflussreiches Land mit offenen Gesprächskanälen aufzuwerten. Laut Lechte betreibt Erdoğan seit Jahren eine außenpolitische Schaukelpolitik.
Der FDP-Politiker sagt:
Gleichzeitig sei er wohl, gemeinsam mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, "einer der letzten Regierungschefs unseres Verteidigungsbündnisses, der überhaupt noch einen persönlichen Zugang zum russischen Präsidenten hat", führt Lechte aus. Damit könnten sie möglichen Einfluss ausüben.
Der FDP-Politiker geht dennoch davon aus, dass insbesondere die Nato-Mitgliedsstaaten am Putin-Besuch Kritik üben werden. Inhaltlich soll es bei dem Treffen wohl um den Krieg in der Ukraine und das damit einhergehende Getreideabkommen gehen.