Er präsentiert sich gern als der große Vermittler auf der politischen Bühne, tanzt am liebsten auf allen Hochzeiten und lehnt sich dabei immer wieder weit aus dem Fenster. So richtig Grenzen weist dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wohl keiner auf.
Für ihn sei die Terrorgruppe Hamas eine "Befreiungsorganisation", Israel bezeichnet er als "Terrorstaat" und stellt dessen Existenzrecht infrage. Laut Expertenstimmen weiß der Opportunist Erdoğan die anti-israelische Stimmung in der überwiegend muslimischen Türkei für sich zu nutzen.
Aber auch, wenn es um den Kampf gegen die verhassten Kurden in Syrien geht. Denn so richtig bekommt das gerade keiner mit.
"Die Angriffe erfolgen mit Drohnen, Kampfflugzeugen und schweren Waffen", sagt eine Sprecherin der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) auf watson-Anfrage. Die Bilder der heroischen Kurdinnen in Uniform und mit der Waffe in der Hand gingen um die Welt.
Die YPJ spielte eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS). Mit ihrer Hilfe wurde etwa die überwiegend von Kurd:innen bewohnte Stadt Kobanê (auch Ain al-Arab genannt) vom IS befreit. Die kurdischen Kämpferinnen füllten die Schlagzeilen und machten dadurch auf die Notlage der kurdischen Menschen in Syrien aufmerksam.
Doch nun ist ihr Kampf in Vergessenheit geraten. Seit Anfang Oktober greift die Türkei fast täglich Militärposten der Kurdenmiliz YPG sowie die zivile Infrastruktur im Nordosten Syriens an – etwa Wasserwerke und Ölraffinerien. Der Vorwand für diese Offensive ist der von der PKK am 1. Oktober verübte Anschlag in Ankara.
"Insbesondere die Angriffe auf die Ölfabriken fügten der ohnehin schwachen Wirtschaft, dem Stromnetz und den Kochgasfabriken schweren Schaden zu", meint die YPJ-Sprecherin. Auch Betriebe für den täglichen Bedarf der Zivilbevölkerung wurden angegriffen, darunter Zementfabriken sowie Getreidesilos.
Die Türkei begründet die Angriffe damit, ihre nationale Sicherheit zu wahren und die von Terroristen ausgehende Gefahr entlang ihrer Grenzregionen zu beseitigen. Die YPG und YPJ sind für die Türkei Terroristen, für die USA hingegen begehrte Partner im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) – bis heute.
Aber das rückt wohl immer mehr in Vergessenheit.
"Als der IS stark war und einige Gebiete kontrollierte, unterstützte die Welt unsere YPJ-Kräfte. Diese Unterstützung war interessengeleitet, weil der Westen den IS als Gefahr ansah", sagt die YPJ-Sprecherin. Doch heute verlieren die Angriffe – hauptsächlich aus der Türkei – auf Nord- und Ostsyrien in vielen Medien an Bedeutung. Vor allem jetzt stehen sie im Schatten des Krieges in der Ukraine und in Nahost.
Dabei spielen die Frauen der YPJ noch immer eine Rolle im Kampf gegen den IS.
"Auch wenn der IS territorial besiegt wurde, befinden sich die Terroristen noch immer in unseren Händen", betont die YPJ-Sprecherin. Diese strömen demnach von überall nach Syrien, doch die Herkunftsstaaten übernähmen in vielen Fällen keine Verantwortung für die nun gefangenen IS-Terroristen. Das sei einer der Gründe, warum die "Hegemonialmächte" über die YPJ schweigen. Sonst müssten sie über ihre Verantwortung für die ausländischen IS-Gefangenen sprechen.
"Es herrscht auch ein allgemeines Schweigen zu den Verbrechen der Türkei gegen die Menschen in Nord- und Ostsyrien", lauten die Vorwürfe der YPJ-Sprecherin. Auch beim Erdoğan-Besuch in Berlin wird es wohl kaum ein Thema sein.
Dafür gibt es nach Ansichten der YPJ viele Gründe.
Politisch gesehen unterhalte die Türkei, obwohl sie Nato-Mitglied ist, enge Beziehungen zu Russland. Doch die Türkei sei mit ihrer außergewöhnlichen geografischen Lage ein wichtiger Knotenpunkt für Handel und Verkehr. "Das führt dazu, dass die westlichen Länder keine klare Position gegen türkische Verbrechen beziehen. Um sicherzustellen, dass Erdoğan keine zu starken Bündnisse mit Russland eingeht", heißt es.
Dazu habe die Türkei mit den syrischen Geflüchteten im Land ein "Druckmittel" gegen Europa. "Demnach verschließen die Europäer ihre Augen vor der türkischen Politik", meint die YPJ-Sprecherin. Immer wieder droht Erdoğan der EU etwa mit der Öffnung der Grenzen und damit einem freien Weg für zahlreiche Geflüchtete nach Europa.
Über die Hälfte der Bevölkerung Syriens verließ das Land seit Beginn des Krieges 2011. Laut UNHCR hat die Türkei mit 3,3 Millionen die höchste Zahl an Syrer:innen weltweit aufgenommen. Die türkischen Angriffe auf die Kurd:innen in Syrien soll auch im Interesse des syrischen Volkes sein, meint der ehemalige türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu in einer Pressemitteilung.
Darin schreibt er:
Wenn es aber um das Schicksal Syriens geht, hat noch eine andere Staatsmacht ein Wörtchen mitzureden: Russland.
Der russische Präsident Wladimir Putin kam damals seinem Autokratie-Kumpel Baschar al-Assad im syrischen Bürgerkrieg zur Hilfe geeilt und bombte die Gegner des syrischen Präsidenten nieder – und blieb. Heute kontrolliert Russland etwa den syrischen Luftraum.
Putin behaupte stets, die Einheit des syrischen Territoriums zu verteidigen. Doch er habe geschwiegen, als die Türkei syrische Gebiete wie Serê Kaniyê oder Afrin angriff, meint die YPJ-Sprecherin. Demnach zeigt dieser Widerspruch, dass Russland gemeinsame Interessen mit der Türkei verfolgt.
Am Ende seien es die Demokratischen Kräfte Syriens, die das Land vor Ort sowohl gegen Angriffe aus der Türkei als auch gegen fundamentalistische Kräfte wie den IS verteidigen, heißt es weiter. Das Ziel des SDF-Bündnisses: ein säkulares und demokratisches Syrien.
Seit 2011 herrscht Chaos in Syrien. Was als friedlicher Protest gegen das autoritäre Regime Assads begann, endete in einem blutigen Bürgerkrieg. Später beteiligten sich auch andere Länder und es weitete sich zu einem Stellvertreterkrieg aus. Das Land zerfiel und syrische Gebiete wurden teilweise von der Assad-Regierung, von Oppositionsgruppierungen, Kurdenmilizen oder dem IS kontrolliert.