Zombies laufen durch die Straßen der US-Stadt Philadelphia. Sie sind abwesend, der Kopf gebeugt, die Gliedmaßen zerfressen. Offene Wunden zeichnen ihre Körper. Was klingt wie der Anfang eines Horrorfilms, ist bittere Realität. Die USA kämpfen mit einer neuen Droge: Tranq, wie Streetworker:innen die Substanz nennen.
Tranq heißt eigentlich Xylazin und stammt aus der Tiermedizin. Zootiere werden mit dem Medikament ruhig gestellt. Auf den Straßen der USA sind es Menschen, die sich mit der Droge betäuben. Die offenen Wunden kommen daher, dass Xylazin wohl die Blutgefäße verengt. Auch Amputationen von Gliedmaßen sind deshalb immer wieder notwendig.
Tranq flutet aktuell die Drogenszene in den USA – beigemischt in Fentanyl. Dem chemischen Opioid, das bereits seit einigen Jahren zu einer Drogenkrise in den Staaten führt. Viele Menschen sterben am Fentanyl-Konsum. Denn das Opioid macht nicht nur schnell abhängig, es ist auch 50-mal stärker als Heroin. Überdosierungen sind hier keine Seltenheit. Tranq als Streckmittel sorgt dafür, dass der sonst kurze Rausch länger hält.
Die neue Droge war plötzlich da, erklären Streetworker:innen. Die Vermutung: Drogenkartelle haben das Tierbetäubungsmittel dem Fentanyl beigemischt. Es hat nicht lang gedauert, bis Tranq zur neuen Hauptsucht in den USA geworden ist.
In Deutschland und Europa sind Fentanyl und Tranq bisher kein Problem – noch nicht. Denn die Europäische Drogenbeobachtungsstelle EMCDDA hat aktuell große Sorge, dass es zu genau dieser Welle auch hier kommt. Grund dafür sind die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan.
Der Jahresbericht der EMCDDA kommt zwar zu dem Ergebnis, dass der europäische Drogenmarkt aktuell noch voll und potent ist. Das aber könnte sich 2024 ändern. Die Taliban gehen nämlich aktuell massiv gegen den Anbau von Schlafmohn in Afghanistan vor – aus diesem Mohn wird Heroin gewonnen. Und das meiste in Europa konsumierte Heroin stammt bislang aus Afghanistan.
Bricht die Versorgung ein, könnte das bittere Konsequenzen haben. Dann nämlich könnte der Weg frei sein für synthetische Opioide wie Fentanyl, schreibt die Drogenbeobachtungsstelle in ihrem Bericht. Denn bei einer Verknappung des Angebotes würde Heroin in Europa zwangsläufig teurer – und möglicherweise auch unreiner. Wichtig sei es deshalb, die weiteren Entwicklungen genau zu beobachten.
Das hat der Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Burkhard Blienert (SPD), vor. Auf watson-Anfrage erklärt er: "Der Fentanylkonsum ist in Deutschland nicht annähernd so dramatisch wie in den USA und Kanada. Dennoch haben wir diese Entwicklungen im Blick." Deutschland arbeite eng mit internationalen Partner:innen zusammen und die Behörden beobachteten den Drogenmarkt genau. Sollte sich etwas verändern, könnten so schnell Schritte ergriffen werden, um gegenzusteuern.
"Unter anderem finanziert das Bundesministerium für Gesundheit den Einsatz von Fentanyl-Teststreifen in Drogenkonsumräumen", erklärt Blienert. Mit der neuen Möglichkeit des legalen Drug Checkings würden etwaigen Überdosierungen durch synthetische Opioide wie Fentanyl vorgebeugt.
Sollte sich abzeichnen, dass es tatsächlich zu einer Heroinknappheit auf dem deutschen Markt kommt, seien "ein niedrigschwelliger Zugang zur Substitutionsbehandlung, eine aktive Aufklärungsarbeit durch die Suchthilfe und natürlich Drug Checking", wichtig.
Die Fentanyl-Tranq-Epidemie ist bei weitem nicht die erste Welle der Opioidkrise, die die USA in Schach hält. Der US-Arzt Daniel Ciccarone beschreibt in seinem Kommentar, der im "International Journal of Drug Policy" erschienen ist, insgesamt drei Wellen der Krise. Anfang des Jahrtausends seien vor allem Opioidpillen für Überdosen verantwortlich gewesen.
Ab 2007 hätte sich dann Heroin immer weiter etabliert, bis die Droge 2015 die Opioidpillen in Sachen Überdosierung überholte. Seit 2013 kämpfen die Konsument:innen außerdem mit Fentanyl. Das synthetische Opioid hat Heroin spätestens 2017 den Rang als tödlichste Droge abgelaufen.
Aber: Auch wenn Fentanyl mittlerweile die meisten Menschenleben kostet, töten Opioidpillen und Heroin ebenfalls noch immer tausende Menschen jährlich. Zwischen 2020 und 2021 wurden erstmals mehr als 100.000 Todesopfer innerhalb eines Jahres verzeichnet.
Zum Vergleich: In Deutschland starben im gleichen Zeitraum 1581 Menschen aufgrund ihres Drogenkonsums – hierzulande werden zu diesen Todeszahlen auch Menschen gezählt, die an den Folgen ihres jahrelangen Konsums gestorben sind. In den USA sterben also rund 60 Mal mehr Menschen wegen Drogen als in Deutschland – während dort die Bevölkerung nur knapp viermal so groß ist.
Ein Grund für die Volks-Abhängigkeit: das Gesundheitssystem. In den USA werden starke Schmerz- und Betäubungsmittel leichtfertiger verschrieben, als es hierzulande der Fall ist. Begonnen hat das US-Drama in den 1990er-Jahren. Damals enterte die Firma Purdue Pharma mit dem Schmerzmittel Oxycontin den Markt.
Ein Opioid-Analgetikum, das in Deutschland unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Das bedeutet, in Deutschland kann dieses Mittel nur mit einem speziellen Rezept verschrieben werden. Und dieses Dokument bekommen Ärzte nur auf Anfrage bei der Bundesdruckerei. Jedes Rezeptblatt ist aus Dokumentationszwecken außerdem nummeriert.
In den USA allerdings gab Purdue Pharma das Suchtpotenzial für ihr Oxycontin als gering an. Viele Ärzt:innen verschrieben das Medikament auch bei moderaten Schmerzen – und zahlreiche Patient:innen wurden abhängig. Mit Ende der Rezepte müssen sie sich ihre Pillen auf dem Schwarzmarkt holen. Schwarzmarkt und Abhängigkeit bekommen die Vereinigten Staaten seither nicht mehr in den Griff. Fentanyl wird außerdem wegen seiner starken Wirkung auch immer häufiger anderen Drogen, wie Kokain, beigemischt.
Mit der Corona-Pandemie hat sich die Opioid-Krise noch einmal verschärft. Hilfs- und Betreuungsangebote gibt es in den USA ohnehin selten, die Lockdowns haben die Situation verschlimmert. Mit einem Opioidreport 2022 ist das Socium Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Uni Bremen der Frage nachgegangen, ob auch Deutschland so eine Opiumkrise drohen kann.
Aktuell, heißt es darin, zeichne sich eine solche Entwicklung in Deutschland nicht ab. Was aber bei der Studie im Auftrag der Handelskrankenkasse herauskam: Auch in Deutschland werden immer mehr Opioide zur Schmerzbehandlung verschrieben.
Laut der Studie sollen 2020 rund dreieinhalbmal so viele definierte Tagesdosen opioidhaltiger Schmerzmitteln verordnet wie 1996. Spitzenreiter: Fentanyl-Schmerzpflaster. Die Studienautor:innen führen diese Entwicklung auf die Veränderung des Durchschnittsalters in Deutschland zurück. Hauptsächlich werden Opioide hier im Bereich der Krebs- und Palliativmedizin angewendet.
Kritisiert hatten die Autor:innen, dass Opioide auch immer häufiger bei Rückenschmerzen verschrieben würden. Und noch etwas sei auffällig: Der Fentanylmissbrauch nimmt auch in Deutschland sukzessive zu. Gleichzeitig könnten die Fentanyl-Schmerzpflaster auch mehrfach verwendet werden – wodurch gebrauchte Pflaster in der Drogenszene relevant werden könnten.
Kriminalrat Christian Böhme vom Bundeskriminalamt erklärt im Gespräch mit "ZDF", dass auch heute schon gebrauchte Fentanylpflaster für den Schwarzmarkt genutzt werden. Diese würden zerschnitten und aufgekocht, der Sud letztlich direkt ins Blut gespritzt.
Festhalten lässt sich also: Deutschland ist bislang weit entfernt von US-amerikanischen Verhältnissen. Sollte afghanisches Heroin, das bislang ein großer Wirtschaftsfaktor für das Land war, tatsächlich gänzlich wegfallen, könnten synthetische Opiate an Gewicht gewinnen.