In den USA fürchten Menschen um ihre Grundrechte: Ende Juni hat der Oberste Gerichtshof (Supreme Court) das Abtreibungsgesetz in den USA gekippt. Bei vielen sitzt der Schock noch tief, dabei geht es jetzt erst richtig los. Das behauptet die US-Expertin Annika Brockschmidt, die auf Twitter warnt: Schaut in die USA, bevor es zu spät ist.
An manchen Tagen habe sie noch Hoffnung, dass Europa erkennt, was in den USA passiert. Die Ereignisse überschlagen sich: Als nächstes sollen die LGBTQ-Rechte in den Fokus des Supreme Court rücken.
LGBTQ-Aktivistinnen und -Aktivisten sind alarmiert und bereiten sich darauf vor, dass der Supreme Court möglicherweise die Ehe für alle aufhebt, berichtet der Journalist John Russell im Online-Nachrichtenmagazin "LGBTQ Nation".
Grund zu dieser Annahme sei unter anderem die ausdrückliche Forderung von Richter Clarence Thomas, der Supreme Court solle Obergefell v. Hodges erneut prüfen.
Abtreibung, Klimaschutz, Waffenrecht und jetzt die Ehe für alle: Das höchste US-Gericht will seine konservative Agenda durchsetzen. Ein gefährliches Erbe des ehemaligen Präsidenten Donald Trump. Er hat die konservativen Richter Brett Kavanaugh und Neil Gorsuch für das Amt nominiert , die darauf für den Posten bestätigt wurden – auf Lebenszeit.
Nachdem 2020 dann die liberale, feministische Richterin und Ikone Ruth Bader Ginsburg verstarb, durfte Trump zum dritten Mal eine Nominierung einreichen. Seine Entscheidung fiel auf die strenggläubige, konservative Katholikin Amy Coney Barrett.
Schon damals läuteten bei vielen Experten die Alarmglocken: Denn Barrett stimmte nicht nur vehement für ein Abtreibungsverbot, sondern auch für die Abschaffung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Stattdessen setzt sie sich für Waffenbesitz und ein traditionelles Familienbild ein.
Das US-Repräsentantenhaus ist das Pendant zum deutschen Bundestag. Dort vertreten die Abgeordneten das Volk. Vergangenen Mittwoch stimmten sie dafür, das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe per Bundesgesetz zu schützen. Dadurch kann der Supreme Court es nicht kippen.
"Respect for Marriage Act" – Respekt für das Ehegesetz – heißt der Gesetzesentwurf, der am vergangenen Dienstag überparteilich mit 267 zu 157 Stimmen verabschiedet wurde. Alle Gegenstimmen stammten von Republikanern, 47 ihrer Parteikollegen votierten jedoch für die Vorlage.
US-Präsident Joe Biden sieht das Grundrecht auf Privatsphäre – bis hin zur Heirat mit der Person, die man liebt – als gefährdet und begrüßt den Schritt des Supreme Court, das Recht jedes Amerikaners auf Eheschließung gesetzlich zu kodifizieren.
Allerdings stehen die Chancen schlecht, dass der Senat das Gesetz aufgrund der knappen Mehrheitsverhältnisse durchwinken wird.
Durch den Fall Roe v. Wade wurde die Grundlage geschaffen, dass weitere Präzedenzfälle zukünftig untergraben oder rückgängig gemacht werden, erklärt Julianna Gonen gegenüber watson. Sie arbeitet am Nationalen Zentrum für Lesbenrechte (NCLR) in den USA. Als Direktorin von NCLR überwacht und fördert sie LGBTQ-Rechte auf US-Bundesebene.
Sehr beunruhigend für Gonen sei die Aussage des Richters Clarence Thomas. "Er fordert den Supreme Court auf, weitere Entscheidungen zu überdenken, die folgende Grundrechte anfechten würden: die freie Verwendung von Verhütungsmitteln, die Freiheit auf gleichgeschlechtliche Intimität und Eheschließung." Laut der Politikwissenschaftlerin und Juristin sei es sehr wahrscheinlich, dass sich Gegner der Homoehe und der LGBTQ-Rechte durch das Abtreibungsverbot des Supreme Courts ermutigt fühlen, diese Rechte zu untergraben und auszuhöhlen.
Dennoch überrascht Gonen die aktuelle Entwicklung nicht:
Wenn der Supreme Court die Ehe für alle kippt, werde das gleichgeschlechtliche Ehen nicht sofort illegal oder ungültig machen, meint Gonen. Es sei ähnlich wie bei dem Abtreibungsverbot: Jeder US-Bundesstaat besitze dann die Freiheit, selbst zu entscheiden. In einigen Staaten wäre dann die Ehen für alle noch erlaubt und in anderen verboten.
"Dieser Sachverhalt würde einige neuartige und komplexe rechtliche Fragen aufwerfen", erklärt Gonen. Beispielsweise, ob eine in einem Staat geschlossene gleichgeschlechtliche Ehe in einem anderen Staat gültig bleibe, der diese verbietet.
Weiter sagt Gonen über die juristische Lage:
Das Problem: Aufgrund struktureller Merkmale des amerikanischen Wahlsystems können konservative Politikerinnen und Politiker, die eindeutig Minderheitenansichten vertreten, die Macht auf Landes- und Bundesebene erlangen. "Wir wissen aus Umfragen, dass die Mehrheit der Amerikaner die Gleichstellung der Ehe und das Recht auf Abtreibung befürwortet, und dennoch führen uns die politischen Entscheidungsträger in die Irre", sagt Gonen.
Die mehrheitlich konservativen Richter des Obersten Gerichtshofs könnten mit weiteren Entscheidungen die Demokratie in den USA aushöhlen. Der Präsident Joe Biden reagiert alarmierend und bezeichnet den Supreme Court als "extremistisch".
Europa kann das politische Geschehen in den USA nicht direkt beeinflussen. Eines der wichtigsten Dinge, die derzeit zu Gunsten der LGBTQ-Rechte wirken, sei die öffentliche Meinung. Gonen ruft Verbündete aus Deutschland und Europa auf, sich weiterhin gegen das Geschehen in den USA auszusprechen.
"Wir müssen diese konservativen Politiker und ihre Unterstützer in eine defensive Position drängen", sagt sie. Gemeinsam könnten wir den Bogen des moralischen Universums weiter in Richtung Gerechtigkeit biegen.