Mitte November fiel der erste Schnee in der Ukraine. Der Winter kündigt sich an. Doch die Freude auf Schneeballschlachten und Weihnachtsbeleuchtung hält sich wohl in Grenzen. Krieg und Winter – neben russischen Raketen drohen den Ukrainer:innen nun eisige Tage ohne Strom und Wasser.
Im zweiten Part einer dreiteiligen Serie dreht sich alles um die humanitäre Lage. Dafür hat watson mit dem Politikwissenschaftler Nikita Gerasimov von der FU Berlin und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gesprochen.
Mit dem Wintereinbruch drohe der ukrainischen Bevölkerung die bislang größte Belastungsprobe seit dem Ausbruch des Krieges, meint Gerasimov. Und das in vielerlei Hinsichten – wirtschaftlich, versorgungstechnisch und mental.
Neben russischen Raketen fallen nun auch die ersten Schneeflocken vom Himmel. Eiseskälte, Finsternis und kein fließendes Wasser: So werden viele Ukrainer:innen den Winter verbringen müssen. Durch die russischen Angriffe auf das Elektrizitätsnetz hat die Ukraine mit Stromausfällen, aber auch mit Problemen bei Heizung, Wasser- und Gasversorgung zu kämpfen. Ziel Russlands ist es: In den Menschen Licht und Wärme zu nehmen.
Gerasimov sieht vor allem große Probleme mit dem Heiz- und Stromsystem. Schon vor dem Krieg lief nicht immer alles rund während der kalten Winter. Ein großer Teil der Heiz- und Strominfrastruktur stamme noch aus der Sowjetzeit und müsse modernisiert werden. Mit dem Krieg habe sich die Lage um ein Vielfaches verschlimmert. Zusätzlich haben es die Russen auf die Kraftwerke abgesehen.
"In den derzeit besetzten Gebieten verlor die Ukraine einen großen Teil ihrer Stromerzeugungskapazitäten", sagt der Konfliktbeobachter Gerasimov. Die bekanntesten Beispiele seien:
Die Aufzählung ließe sich Gerasimov zufolge fortführen. Aber allein der Wegfall dieser genannten Stromerzeugungskapazitäten sei bereits eine enorme Herausforderung für die Ukraine. Er sagt weiter:
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Einrichtung von mehr als 4000 Wärmestuben für die Bevölkerung angekündigt. Er sei sich sicher, dass die Ukrainer:innen diesen Winter gemeinsam überstehen werden, wenn sie sich gegenseitig helfen.
Mit Beginn der Heizperiode werden weite Teile des Landes mit großer Wahrscheinlichkeit ohne stabile Heizung dastehen, meint Gerasimov. In Kiew könnte die Stromversorgung kollabieren. Es wird bereits von einer "Totalevakuierung" gesprochen.
Und das ist nicht alles: In den umkämpften und befreiten Gebieten im Donbass sind viele Häuser so sehr zerstört, dass die Menschen dort im Winter nicht einmal Schutz vor dem Wind haben. Die ukrainische Administration will die Menschen vor Ort offenbar unterstützen, doch wie sich diese Hilfe gestaltet, ist mehr als fraglich.
In die stark umkämpfte Stadt Bachmut lieferte die ukrainische Administration kürzlich mehrere Tonnen Kohle zum Heizen, watson hatte freiwillige Helfer:innen in der Stadt angetroffen, die die Kohle in Säcke verteilte. Allerdings fiel auf: Hierbei handelte es sich nicht um Heizkohle-Briketts, sondern um Kohlestaub. Tatsächlich Wärme damit zustande zu bringen, dürfte schwierig werden.
Anton Yaremchuk ist für die Hilfsorganisation Base UA in den befreiten Gebieten und an der Frontlinie im Einsatz. Im Gespräch mit watson berichtet er, dass dort die Lage besonders dramatisch sei. "Wie diese Menschen durch den Winter kommen sollen, ist unklar", sagt er. Die meisten suchten Unterschlupf in ihren Kellern. Laut Yaremchuk heizen sie die unterirdischen Räume mit selbstgebastelten Öfen. "Die Menschen verbrennen Holz und einfach alles, was brennbar ist", meint der Aktivist vor Ort. "Wir wissen nicht, wie dramatisch es wird – auf alle Fälle wird es schlimmer."
Ihm zufolge wolle der russische Präsident Wladimir Putin eine neue Flüchtlingswelle in Gang setzen und damit politischen Einfluss auf Europa nehmen. "Der Plan wird aber nicht aufgehen", meint Yaremchuk. Die Ukrainer:innen bereiteten sich auf den Winter vor und passten sich dem neuen Alltag an. So besitzen die meisten Tankstellen bereits Starkstrom-Generatoren. Und die werden wohl auch nötig sein.
Denn die Lage spitzt sich zu – so wie in Kiew.
"Das ist der schlimmste Winter seit dem Zweiten Weltkrieg", sagt Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko im Gespräch mit der "Bild"-Zeitung. Die Ukraine müsse auf das "schlimmste Szenario" von flächendeckenden Stromausfällen bei tiefen Temperaturen vorbereitet sein: "Dann müssten Teile der Stadt evakuiert werden", sagt er. "Aber so weit wollen wir es nicht kommen lassen!"
Laut Klitschko will Putin die Menschen terrorisieren, sie im Dunklen frieren lassen. So solle Druck auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ausgeübt werden. Dazu sagt der Bürgermeister von Kiew:
Er bat Deutschland, neben Waffen zur Verteidigung dringend auch Generatoren, Schutzkleidung und humanitäre Güter zu schicken.
Die Bundesregierung stehe bereits in engem Austausch mit der ukrainischen Regierung, meint eine Sprecherin des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).
Die humanitäre Lage in der Ukraine im Winter sei vor allem für die Binnenvertriebenen kritisch. Über sechs Millionen Menschen sollen sich innerhalb der Ukraine auf der Flucht befinden. Sie haben oft ihre gesamte Existenzgrundlage verloren.
Damit sich diese Menschen weiter mit dem Nötigsten versorgen können, etwa mit winterfester Kleidung und Heizmaterial, stelle das BMZ 200 Millionen Euro bereit. "Dieser Betrag entspricht der monatlichen Hilfe für über drei Millionen Menschen", sagt eine Sprecherin des Ministeriums.
Laut Politikwissenschaftler Gerasimov könnte Russland den internationalen Hilfsmaßnahmen Steine in den Weg legen. Rein theoretisch sei ein humanitäres Abkommen, wie etwa der "Getreidedeal" möglich. Mit solch einem Deal könnten über einen abgestimmten Sicherheitskorridor etwa winterfeste Sachen sowie Stromgeneratoren geliefert werden.
"Dem wird der Kreml aber höchstwahrscheinlich nicht zustimmen", sagt Gerasimov. Denn all diese Sachen könnten "Dual-Use" sein. Sprich, nutzbar sowohl für die Bevölkerung als auch für das Militär. "Einfach ausgedrückt, Stromgeneratoren könnten nicht in Kiew landen, sondern genauso gut bei den Verbänden an der Front", erklärt der Politikwissenschaftler.