Knapp sechs Jahre ist die Terrornacht von Paris mittlerweile her. Islamistische Terroristen töteten am 13. November 2015 bei einer Anschlagsserie 130 Menschen – im Konzertsaal "Bataclan", in Restaurants und am Stade de France im Pariser Vorort Saint-Denis. 350 wurden verletzt. Sechs Selbstmordattentäter sprengten sich in die Luft, mehrere Menschen feuerten aus Gewehren auf Passanten.
Am Mittwoch begann der Gerichtsprozess um die Attentate. Angeklagt sind insgesamt 20 Verdächtige. Salah Abdeslam (31) steht dabei im Mittelpunkt. Gleich in seinen ersten Worten im Pariser Justizpalast, als es eigentlich um seine Personalien geht, bekennt er sich als Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Dies sei sein Beruf. Fast 1000 Polizistinnen und Polizisten sichern das Verfahren, der Justizpalast ist weiträumig abgesperrt und von Spezialkräften umringt. Der Staat demonstriert Stärke.
Den Attentaten in Paris folgten zwei europäische Terrorjahre: 2016 und 2017. Brüssel, Nizza, Berlin, Istanbul, Manchester und London, das waren die Schauplätze der tödlichen islamistischen Anschläge. Ab 2018 gab es weitere Attentate – von Islamisten wie von Rechtsterroristen. Die Dimension der Attentate von Paris hat glücklicherweise keines mehr erreicht.
Warum ist das so? Und hat die Gefahr größerer Terroranschläge seither wirklich abgenommen?
Watson hat drei Politiker gefragt, die sich in den vergangenen Jahren intensiv mit islamistischem Terror beschäftigt haben: die Bundestagsabgeordneten Martina Renner (Linke), Klaus-Dieter Gröhler (CDU) und Benjamin Strasser (FDP). Alle drei waren Mitglieder des Untersuchungsausschusses zum Attentat am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016, bei dem der Islamist Anis Amri 12 Menschen ermordete.
Martina Renner, stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke findet, dass der Eindruck, Terror hätte abgenommen, täuscht. Gegenüber watson erklärt sie:
Sie nennt verschiedene Gründe dafür, dass größere Anschläge ausgeblieben sind. Darunter die militärische Niederlage des IS, die aus Renners Sicht "scheinbar" den Zulauf und die Anziehungskraft des islamischen Kampfes geschwächt habe. "Zudem hat die Tätigkeit der Ermittlungsbehörden zugenommen und damit ist auch der Druck auf die islamischen Netzwerke gestiegen", sagt Renner weiter.
Die Linkenpolitikerin räumt allerdings ein:
Renner verweist in diesem Zusammenhang auf den Anschlag in Wien im November 2020. Die Behörden vor Ort hätten im Vorfeld schwerwiegende Fehler gemacht. "Der Attentäter und die mutmaßlichen Unterstützer waren im Vorfeld bekannt und wurden sogar observiert", sagt Renner. Es habe in diesem Zusammenhang auch Verbindungen nach Deutschland gegeben. Nämlich zu Personen aus einem islamistischen Netzwerk. Ebenjenes Netzwerk habe im Mittelpunkt der Untersuchungen zum Anschlag am Breitscheidplatz gestanden. Renner fasst zusammen:
Der Vorsitzende des Ausschusses, Klaus-Dieter Gröhler von der CDU bewertet die Entwicklung der Ermittlungsbehörden positiv. Gegenüber watson erklärt er:
Es sei bekannt, dass es mehrere hundert Gefährder in Deutschland gebe, so der Unionspolitiker. Es sei aber eine Frage der Abwägung, welcher dieser Gefährder am stärksten bewacht werden müsse. Gröhler räumt ein, dass eine solche Abwägung, wie im Fall von Anis Amri, fehlerhaft sein könne.
Was heute aber besser funktioniere als 2016 sei die Abstimmung zwischen den Bundesländern und den Bundesbehörden. Gröhler erklärt: "Auch der Datenaustausch ist wesentlich erleichtert worden und Gefährder werden heute nach anderen Kriterien beurteilt als das im Fall Amri der Fall gewesen ist."
FDP-Politiker Benjamin Strasser war ebenfalls Mitglied des Untersuchungsausschusses. Er warnt davor, so zu tun, als sei die Terrorgefahr durch den IS und andere Organisationen gebannt. Vielmehr sei es großes Glück, dass Anschläge im Ausmaß von Paris, Brüssel, Nizza oder Berlin länger nicht geschehen sind. Nach Strassers Einschätzung hängt diese Entwicklung stark mit der Schwächung der Strukturen der Terrormiliz Islamischer Staat zusammen – erreicht durch militärische Aktionen in Syrien und dem Irak.
"Die fundamentalistische Ideologie bleibt trotzdem in den Köpfen vieler Islamisten, die sich umso unberechenbarer in Gewalttaten bis hin zu Morden äußert", sagt Strasser. Als Beweis für diese These nennt er ebenso wie Renner den Anschlag in Wien, aber auch die homophob-motivierte Messerattacke, die sich im April in Dresden ereignete. Ein Mann wurde dabei getötet.
Strasser bemängelt:
Aus Strassers Sicht bräuchte es neben einer klareren Kompetenzabgrenzung der verschiedenen Behörden auch verfassungskonforme Regelungen für den Informationsaustausch zwischen Polizeien und Geheimdiensten. Außerdem fordert er "eine gesetzliche Grundlage für das sogenannte 'Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum'."
Auch die Software "RADAR-iTE“ soll der Terrorismusabwehr dienen. Das Bewertungstool für radikale Islamisten war 2017 bundesweit eingeführt worden, um die Ressourcen der Polizei auf Extremisten zu konzentrieren, von denen ein hohes Risiko ausgeht. Bei der Bewertung wird unter anderem auf biografische Daten und bestimmte Verhaltensweisen geschaut. Als Gefährder bezeichnet die Polizei Menschen, denen sie schwere, politisch motivierte Gewalttaten zutraut – bis hin zu Terroranschlägen.
Strasser hatte jüngst eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, wieviele der bekannten Gefährder bereits mit dem Tool überprüft wurden.
Die Antwort lässt Luft nach oben erkennen. Bis August seien 62 Prozent der 552 Gefährder überprüft worden, heißt es in der Antwort. Strasser sagt dazu gegenüber watson:
Auch Stephan Humer, Soziologe und Teil des Netzwerks Terrorismusforschung, vertritt die Ansicht, dass die Gefahr von Terroranschlägen nie gebannt ist. Er räumt ein, dass die Behörden heute deutlich besser aufgestellt seien als zur Zeit der
Attentate von Paris 2015. Trotzdem sagt er gegenüber watson:
Er räumt ein, dass letzteres zwar unwahrscheinlich, aber nicht komplett unrealistisch sei.
Wie Martina Renner und Benjamin Strasser ist auch Humer davon überzeugt, dass die Sogwirkung des Islamischen Staates durch den Verlust des Kalifats und militärische Aktionen gemindert wurde. "Das hat für einen enormen Motivationseinbruch bei den sogenannten – potenziellen – 'Foreign Fighters' gesorgt", sagt Humer.
Aber auch auf europäischer Ebene sei viel passiert, so der Terrorexperte. So habe sich beispielsweise die staatliche Zusammenarbeit verbessert und sei effizienter geworden. Humer fasst den vorherigen Stand zusammen: "Es gab, auch wenn man das aufgrund der Modernität unserer gegenwärtigen Welt manchmal schwer glauben mag, noch gravierende Sicherheitslücken in Europa."
(Mit Material von dpa)