Fast 1000 Polizistinnen und Polizisten sichern das Verfahren in Paris. Der Justizpalast ist weiträumig abgesperrt und von Spezialkräften umringt. Bild: MAXPPP / Franck Dubray
Analyse
10.09.2021, 18:1211.09.2021, 08:05
Knapp sechs Jahre ist die Terrornacht von Paris mittlerweile her. Islamistische Terroristen töteten am 13. November 2015 bei einer Anschlagsserie 130 Menschen – im Konzertsaal "Bataclan", in Restaurants und am Stade de France im Pariser Vorort Saint-Denis. 350 wurden verletzt. Sechs Selbstmordattentäter sprengten sich in die Luft, mehrere Menschen feuerten aus Gewehren auf Passanten.
Am Mittwoch begann der Gerichtsprozess um die Attentate. Angeklagt sind insgesamt 20 Verdächtige. Salah Abdeslam (31) steht dabei im Mittelpunkt. Gleich in seinen ersten Worten im Pariser Justizpalast, als es eigentlich um seine Personalien geht, bekennt er sich als Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Dies sei sein Beruf. Fast 1000 Polizistinnen und Polizisten sichern das Verfahren, der Justizpalast ist weiträumig abgesperrt und von Spezialkräften umringt. Der Staat demonstriert Stärke.
Den Attentaten in Paris folgten zwei europäische Terrorjahre: 2016 und 2017. Brüssel, Nizza, Berlin, Istanbul, Manchester und London, das waren die Schauplätze der tödlichen islamistischen Anschläge. Ab 2018 gab es weitere Attentate – von Islamisten wie von Rechtsterroristen. Die Dimension der Attentate von Paris hat glücklicherweise keines mehr erreicht.
Warum ist das so? Und hat die Gefahr größerer Terroranschläge seither wirklich abgenommen?
Watson hat drei Politiker gefragt, die sich in den vergangenen Jahren intensiv mit islamistischem Terror beschäftigt haben: die Bundestagsabgeordneten Martina Renner (Linke), Klaus-Dieter Gröhler (CDU) und Benjamin Strasser (FDP). Alle drei waren Mitglieder des Untersuchungsausschusses zum Attentat am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016, bei dem der Islamist Anis Amri 12 Menschen ermordete.
Martina Renner: "Immer noch große Defizite beim Erkennen islamistischer Strukturen und Netzwerke"
Martina Renner, stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke findet, dass der Eindruck, Terror hätte abgenommen, täuscht. Gegenüber watson erklärt sie:
"Der Eindruck, dass es nach 2016 in Europa weniger Anschläge gegeben hat, entsteht vor allem dadurch, dass die ganz großen Angriffe ab einem gewissen Zeitpunkt ausgeblieben sind. Allerdings gab es auch 2017 große Anschläge wie den von der Silvesternacht in Istanbul oder im April in St. Petersburg und einen Monat später in Manchester, jeweils mit dutzenden Toten."
Martina Renner, Die Linke
Sie nennt verschiedene Gründe dafür, dass größere Anschläge ausgeblieben sind. Darunter die militärische Niederlage des IS, die aus Renners Sicht "scheinbar" den Zulauf und die Anziehungskraft des islamischen Kampfes geschwächt habe. "Zudem hat die Tätigkeit der Ermittlungsbehörden zugenommen und damit ist auch der Druck auf die islamischen Netzwerke gestiegen", sagt Renner weiter.
Martina Renner war Mitglied des Untersuchungsausschusses zum Attentat am Breidscheidplatz.Bild: Geisler-Fotopress / Christoph Hardt/Geisler-Fotopres
Die Linkenpolitikerin räumt allerdings ein:
"Hier muss ich nach drei Jahren Untersuchungsausschuss allerdings feststellen, dass immer noch große Defizite beim Erkennen islamistischer Strukturen und Netzwerke bestehen. Zudem werden die Wege der Waffen von den Ermittlungsbehörden noch nicht ausreichend aufgeklärt. Das sehe ich nach wie vor als eines der größten Probleme."
Martina Renner, Die Linke
Renner verweist in diesem Zusammenhang auf den Anschlag in Wien im November 2020. Die Behörden vor Ort hätten im Vorfeld schwerwiegende Fehler gemacht. "Der Attentäter und die mutmaßlichen Unterstützer waren im Vorfeld bekannt und wurden sogar observiert", sagt Renner. Es habe in diesem Zusammenhang auch Verbindungen nach Deutschland gegeben. Nämlich zu Personen aus einem islamistischen Netzwerk. Ebenjenes Netzwerk habe im Mittelpunkt der Untersuchungen zum Anschlag am Breitscheidplatz gestanden. Renner fasst zusammen:
"Ich würde daher insgesamt konstatieren, dass die Gefahr der Begehung von größeren Anschlägen gesunken ist, die Behörden allerdings weiterhin großen Nachholbedarf in Bezug auf ihre Ermittlungstätigkeiten haben."
Martina Renner, Die Linke
Klaus-Dieter Gröhler: "Ich gehe davon aus, dass die Sicherheitsbehörden heute besser in der Lage sind, Terrorgefahren zu erkennen"
Der Vorsitzende des Ausschusses, Klaus-Dieter Gröhler von der CDU bewertet die Entwicklung der Ermittlungsbehörden positiv. Gegenüber watson erklärt er:
"Ich gehe davon aus, dass die Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin 2016 heute besser in der Lage sind, Terrorgefahren zu erkennen und auch Gefahren auszuschließen."
Klaus-Dieter Gröhler, CDU
Der Vorsitzende des Ausschusses: CDU-Politiker Klaus-Dieter Gröhler.Bild: dpa / Felix Schröder
Es sei bekannt, dass es mehrere hundert Gefährder in Deutschland gebe, so der Unionspolitiker. Es sei aber eine Frage der Abwägung, welcher dieser Gefährder am stärksten bewacht werden müsse. Gröhler räumt ein, dass eine solche Abwägung, wie im Fall von Anis Amri, fehlerhaft sein könne.
"Gefährder werden heute nach anderen Kriterien beurteilt, als das im Fall Amri der Fall gewesen ist."
Klaus-Dieter Gröhler, Vorsitzender
des Untersuchungsausschuss Breitscheidplatz
Was heute aber besser funktioniere als 2016 sei die Abstimmung zwischen den Bundesländern und den Bundesbehörden. Gröhler erklärt: "Auch der Datenaustausch ist wesentlich erleichtert worden und Gefährder werden heute nach anderen Kriterien beurteilt als das im Fall Amri der Fall gewesen ist."
Benjamin Strasser: "Die Bundesregierung hat nicht die richtigen Rückschlüsse aus früheren Anschlägen gezogen"
FDP-Politiker Benjamin Strasser war ebenfalls Mitglied des Untersuchungsausschusses. Er warnt davor, so zu tun, als sei die Terrorgefahr durch den IS und andere Organisationen gebannt. Vielmehr sei es großes Glück, dass Anschläge im Ausmaß von Paris, Brüssel, Nizza oder Berlin länger nicht geschehen sind. Nach Strassers Einschätzung hängt diese Entwicklung stark mit der Schwächung der Strukturen der Terrormiliz Islamischer Staat zusammen – erreicht durch militärische Aktionen in Syrien und dem Irak.
"Die fundamentalistische Ideologie bleibt trotzdem in den Köpfen vieler Islamisten, die sich umso unberechenbarer in Gewalttaten bis hin zu Morden äußert", sagt Strasser. Als Beweis für diese These nennt er ebenso wie Renner den Anschlag in Wien, aber auch die homophob-motivierte Messerattacke, die sich im April in Dresden ereignete. Ein Mann wurde dabei getötet.
Strasser bemängelt:
"Die Bundesregierung hat nicht die richtigen Rückschlüsse aus früheren Anschlägen gezogen und wichtige Reformen liegen gelassen. Immer wieder zeigen sich Mängel bei der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder. Oft sind viele zuständig, aber wenn es darauf ankommt, ist niemand verantwortlich. Wir haben mit 40 Sicherheitsbehörden zu viele und oftmals zu kleine Behörden, die die an sie gestellten Anforderungen nicht immer erfüllen können."
Benjamin Strasser, FDP
Aus Strassers Sicht bräuchte es neben einer klareren Kompetenzabgrenzung der verschiedenen Behörden auch verfassungskonforme Regelungen für den Informationsaustausch zwischen Polizeien und Geheimdiensten. Außerdem fordert er "eine gesetzliche Grundlage für das sogenannte 'Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum'."
Benjamin Strasser saß für die FDP im Untersuchungsausschuss.Bild: Geisler-Fotopress / Christoph Hardt/Geisler-Fotopres
Auch die Software "RADAR-iTE“ soll der Terrorismusabwehr dienen. Das Bewertungstool für radikale Islamisten war 2017 bundesweit eingeführt worden, um die Ressourcen der Polizei auf Extremisten zu konzentrieren, von denen ein hohes Risiko ausgeht. Bei der Bewertung wird unter anderem auf biografische Daten und bestimmte Verhaltensweisen geschaut. Als Gefährder bezeichnet die Polizei Menschen, denen sie schwere, politisch motivierte Gewalttaten zutraut – bis hin zu Terroranschlägen.
Strasser hatte jüngst eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, wieviele der bekannten Gefährder bereits mit dem Tool überprüft wurden.
Die Antwort lässt Luft nach oben erkennen. Bis August seien 62 Prozent der 552 Gefährder überprüft worden, heißt es in der Antwort. Strasser sagt dazu gegenüber watson:
"Vom selbstgesetzten Ziel einer umfassenden und regelmäßigen Bewertung aller Gefährder ist die Bundesregierung hier noch meilenweit entfernt. Der Fall Amri ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie schnell es zu einer Serie von Fehleinschätzungen kommen kann und Gefährder unterschätzt werden. RADAR-iTE hätte hingegen im Gegensatz zu den meisten der beteiligten Sicherheitsbehörden vor dem Anschlag ein hohes Risiko des späteren Attentäters Anis Amri prognostiziert."
Benjamin Strasser, FDP
Soziologe Stephan Humer: "Auch die Terroristen entwickeln ihre Strategien und Taktiken weiter"
Auch Stephan Humer, Soziologe und Teil des Netzwerks Terrorismusforschung, vertritt die Ansicht, dass die Gefahr von Terroranschlägen nie gebannt ist. Er räumt ein, dass die Behörden heute deutlich besser aufgestellt seien als zur Zeit der
Attentate von Paris 2015. Trotzdem sagt er gegenüber watson:
"Aber auch die Terroristen entwickeln ihre Strategien und Taktiken weiter. Zudem ist eine der unberechenbarsten Attacken die eines "Einsamen Wolfs". Und diese ist extrem schwer bis gar nicht vorhersehbar. So könnte auch eine Anschlagsserie entstehen, indem sich immer wieder ein Lone Wolf findet, der die Serie fortsetzen will."
Er räumt ein, dass letzteres zwar unwahrscheinlich, aber nicht komplett unrealistisch sei.
Wie Martina Renner und Benjamin Strasser ist auch Humer davon überzeugt, dass die Sogwirkung des Islamischen Staates durch den Verlust des Kalifats und militärische Aktionen gemindert wurde. "Das hat für einen enormen Motivationseinbruch bei den sogenannten – potenziellen – 'Foreign Fighters' gesorgt", sagt Humer.
Aber auch auf europäischer Ebene sei viel passiert, so der Terrorexperte. So habe sich beispielsweise die staatliche Zusammenarbeit verbessert und sei effizienter geworden. Humer fasst den vorherigen Stand zusammen: "Es gab, auch wenn man das aufgrund der Modernität unserer gegenwärtigen Welt manchmal schwer glauben mag, noch gravierende Sicherheitslücken in Europa."
(Mit Material von dpa)
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