Es gab Zeiten, da war Gesundheitspolitik ein Thema für die hinteren Zeitungsseiten. Die Materie wirkte sperrig, für Laien undurchsichtig und das Amt des Bundesgesundheitsministers hatte wenig Sexappeal.
Mit der Pandemie hat sich dies radikal geändert – und plötzlich kommt das Thema Gesundheit aus dem Rampenlicht nicht mehr heraus.
Das gilt auch für den seit Dezember 2021 amtierenden Gesundheitsminister Karl Lauterbach.
Schon zu Zeiten der schwarz-roten Vorgänger-Regierung gehörte der Sozialdemokrat gewissermaßen zum Mobiliar politischer Talkshows. Nun steht er erst recht unter dauerhafter Beobachtung einer Öffentlichkeit, die sich an der Haltung zu der Pandemie spaltet, streitet und manchmal versöhnt.
Und weil der Ton in Debatten allgemein rauer zu werden scheint, sieht sich auch der SPD-Politiker mit teils harscher, manchmal unsachlicher Kritik konfrontiert.
Das hat nicht nur mit dem Reizthema Covid zu tun, das viele Menschen auf die Barrikaden treibt wie 2015 die Merkel'sche Flüchtlingspolitik.
Lauterbach selbst hat in den Zeiten vor der Ampel-Koalition nicht mit deutlichen Worten gespart, was ihm manche Beobachter als Besserwisserei ausgelegt haben. Umso penibler schauen ihm nun viele auf die Finger, um zu prüfen, ob er den eigenen Ansprüchen gerecht wird.
Namhafte Experten finden, dass Lauterbach das nicht schafft. Der Leipziger Epidemiologe Markus Scholz ist einer von ihnen.
Er schätzt die Lage auf Anfrage von watson so ein:
Dass in der jetzigen Lage mehr oder weniger alle Maßnahmen – inklusive der wenig einschränkenden, aber effektiven Maskenpflicht – an vielen Stellen entfielen, sei für ihn "völlig unverständlich", sagt Scholz.
Die fehlenden Richtlinien zur Definition von Hotspots bewirkten, dass das Infektionsschutzgesetz praktisch nicht anwendbar sei. Oder, dass es willkürlich interpretiert werden könne.
Allerdings hat Scholz nach eigener Aussage trotzdem den Eindruck, dass Lauterbach den eigenen Ansprüchen aus der Zeit der Großen Koalition gerecht werde.
Der Epidemiologe schränkt ein:
Nur so sei für ihn erklärbar, dass sich Karl Lauterbach nicht gegen den Koalitionspartner FDP durchsetzen könne.
Auf Druck der Liberalen war der Maßnahmen-Katalog zur Bekämpfung der Pandemie eingedampft worden. Diese hatten immer wieder einen "Freedom Day" gefordert: also einen Stichtag, an dem die Pandemie für beendet erklärt werde und die Restriktionen fallen sollten.
Dies habe er eigenhändig verhindert, sagte Lauterbach kürzlich in einem Interview mit dem WDR.
Die FDP hatte auf Lockerungen etwa in Bezug auf 2G- und 3G-Regelungen gedrängt, oder auch beim Thema Maskenpflicht in Innenräumen. Karl Lauterbach, der einstige Mahner, musste dies um des Friedens willen später verteidigen. Beobachterinnen wie die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt von der "Süddeutschen Zeitung" sprachen von einer "absurde(n) Situation".
Reichweitenstarke FDP-Mitglieder wie der Kölner Unternehmer Mic de Vries fordern währenddessen Lauterbachs Rücktritt.
Die deutsche Corona-Politik ist nicht erst seit Lauterbachs Amtszeit unter verschärfter Kritik. Die Themen sind zahlreich. Themen, von denen viele nun auch auf Lauterbachs Schreibtisch liegen.
In Sachen Digitalisierung handelte sich die Bundesregierung im Januar eine Rüge des Corona-Expertenrates ein. Die Mitglieder des hauseigenen Gremiums drängten auf eine weitreichende Reform des Gesundheitswesens.
Es brauche "Ausleitung, Auswertung und Veröffentlichung von anonymisierten Gesundheitsdaten" in Echtzeit. Auch die Einführung der elektronischen Patientenakte sollte höchste Priorität bekommen.
Auch Epidemiologe Markus Scholz von der Universität Leipzig sagt watson:
In der ARD erschien vor einigen Tagen ein einstündiger Film über Lauterbach. "Wenn man ihm zuhört, hat man den Eindruck, er sei seit 30 Jahren Gesundheitsminister", kommentiert der Journalist Markus Feldenkirchen, der den SPD-Politiker ein Jahr lang begleitet hat.
"Man muss zugeben: Niemand habe das Gesundheitswesen so geprägt, wie der Berater und Abgeordnete Lauterbach. Ob das nun gut oder schlecht ist – Ansichtssache", sagt Feldenkirchen.
Für den umstrittenen Krisen-Manager Karl Lauterbach kündigt sich währenddessen schon die nächste Schlacht an. Am Dienstag hat er sich für eine gemeinsame europäische Strategie für eine vierte Impfung für Über-60-Jährige ausgesprochen – und damit erneut polarisiert.
Sein langfristiger politischer Erfolg wird auch davon abhängen, ob er in der Lage ist, dem steigenden öffentlichen Druck dauerhaft standzuhalten.