Das Jahr neigt sich dem Ende. Es war ein schwieriges, auch für die USA – vor allem für den amtierenden Präsidenten Joe Biden. Die altbekannte Weltordnung gerät ins Schwanken: Krieg in der Ukraine, in Nahost zwischen Israel und der Terrorgruppe Hamas – und der stille Beobachter China schaut zu, wie sich die USA jetzt verhalten. Schließlich steht der von US-Truppen beschützte Inselstaat Taiwan ganz oben auf der Wunschliste Chinas.
Die Außenpolitik ist eine Achterbahnfahrt, aber auch innerhalb der USA ergibt sich ein Gruselkabinett für Biden: die rechtspopulistischen Republikaner mit ihrem "Anführer" Donald Trump. Sie lassen keine Gelegenheit aus, um das politische Leben des Präsidenten zu erschweren. Als Oppositionspartei ist es zwar auch ihre Aufgabe: Aber mit ihren Spielchen treiben sie es für den Geschmack ihrer Kritiker:innen zu weit.
Dabei schrecken sie nicht davor zurück, mit Menschenleben zu spielen. Vor allem mit jenen, die gerade an der Front einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg abwehren.
Es geht um den Fortbestand eines Landes: der Ukraine. Ohne die milliardenschweren Hilfspakete der USA könnte Russland das Nachbarland wohl früher oder später einnehmen – und auch vor dem Nato-Land Polen nicht Halt machen? Experten:innen warnen: Der Machthunger von Kremlchef Wladimir Putin ist groß.
Sollte Russland die Ukraine erfolgreich überfallen, würde das dem russischen Nationalismus und Neoimperialismus kräftig Wind in die Segel blasen, warnen Politikwissenschaftler Carlo Masala und Nico Lange in ihrem kürzlich erschienen Essay
Doch noch ein weiterer Magen knurrt nach Macht: Die US-Republikaner wollen mit Trump zurück ins Weiße Haus. Die Wahlen finden 2024 statt, die Werbetrommeln schlagen bereits laut durch das Land. Eines der beliebten Wahlkampfthemen dabei: Migration.
Nun halten die Republikaner die Ukraine als "Geisel" im US-Kongress gegen Biden. Seine Regierung soll mehr Mittel zum Schutz der US-Südgrenze und strengere Regeln in der Migrationspolitik bewilligen, erst dann stimmen sie weiteren Finanzen für die Ukraine zu. Mit der Migrationspolitik hat Trumps Partei wohl Bidens Achillesverse gefunden.
"Bidens Einwanderungspolitik war seit seinem Amtsantritt eine offene Wunde", sagt US-Experte Andrew Denison auf watson-Anfrage. Denn: Nach der Corona-Pandemie stiegen die Zahlen unweigerlich in die Höhe, führt der Direktor des Transatlantic Networks aus.
Mit diesem Problem sei die Biden-Regierung nicht allein, meint Thomas Greven, Privatdozent für Politikwissenschaft am Kennedy-Institut der FU Berlin. "Alle Zielländer der Migration tun sich schwer, mit dem aktuell hohen Migrationsdruck klarzukommen", sagt der USA-Experte auf Anfrage von watson.
Greven hebt hervor: "Trump hatte von Ausnahmeregelungen während der Covid-Pandemie profitiert." Aber dieses Detail erwähnen Trump und seine Partei nicht. Die rechtspopulistischen, teils extrem rechten Republikaner – ob Trump, Floridas Gouverneur Ron DeSantis oder Texas Gouverneur Greg Abbott – missbrauchen das Thema Migration für ihre Politik: Sie ködern die Wähler:innen mit Angst – und das erfolgreich.
50 Prozent der befragten, registrierten Wähler:innen gab bei einer NBC-Umfrage im September dieses Jahres an, dass die Republikaner besser für die Sicherheit der Grenzen geeignet seien. 20 Prozent der Befragten trauen den Job den Demokraten zu.
Migration ist also eines der Top-Themen, bei denen die Republikaner punkten können – und sie geben Vollgas.
Es wird gegen Migrant:innen gehetzt und Angst geschürt – so weit, dass Organisationen für das von DeSantis regierte Florida Reisewarnungen für Minderheiten ausrufen. In Texas arbeitet der Gouverneur Abbott außerdem daran, Geflüchtete aus Mexiko am Rio Grande (Mexikanisch: Rio Bravo) aufzuhalten.
Dabei schreckt er auch nicht vor Bojen mit rasiermesserscharfen Metallblättern zurück, die wie Sägeblätter fungieren. Laut US-Medien schubsen texanische Grenzbeamte auch erschöpfte Kinder zurück in den Fluss.
Biden sei bisher nicht ausreichend auf die Migrationspolitik eingegangen, um den Republikanern bei diesem Thema den Wind aus den Segeln zu nehmen, meint US-Experte Denison. "Leider wurde dieses Problem auf die lange Bank geschoben."
Dazu komme, dass der linke Flügel der Biden-Regierung den Republikanern in Fragen des Asylrechts und der Amnestie für illegal Eingewanderte vorerst keine Zugeständnisse machen wollte. Vor allem für diejenigen, die als Kinder in die USA kamen und hier aufwuchsen.
Laut Greven ist es eine Gratwanderung – die man auch in Europa beobachten kann. Er sagt:
Insofern sei es immer als Erfolg anzusehen, wenn die Lösung des Problems "ruhig und besonnen" erfolgt, "ohne sich auf die hetzerische, rassistische Sprache der Rechtsaußen einzulassen". Das gelinge Greven zufolge den Demokraten besser als etwa den Christdemokraten in Deutschland.
Angesichts des aus vielen Gründen hohen Migrationsdrucks befinden sich Rechtsstaaten, die internationale Regeln etwa zu Asyl und Flucht beachten wollen, in einer schwierigen Lage. "Daran kann auch die US-Vizepräsidentin wenig ändern", sagt Greven. Denn: Biden beauftragte Kamala Harris, sich um die Eindämmung der Migration aus Lateinamerika zu kümmern.
Laut Denison verfolgte Harris eine richtige Strategie: Sie reiste etwa nach Lateinamerika, um Fluchtursachen zu bekämpfen und Asylverfahren vor Ort zu organisieren. Aber: All das bleibe laut dem Experten eine Sisyphosarbeit, solange in Washington kein Konsens über Einwanderung erzielt werden kann.
"Demnach ist Harris eher dazu bestimmt, hier den Blitzableiter für Biden zu spielen, als das Problem zu lösen", führt Greven aus. Ihm zufolge wird der Migrationsdruck weiter hoch bleiben. Er betont aber: Die USA sind grundsätzlich aus demografischen Gründen auf Migration angewiesen.
"Deshalb führen die schlichten Vorschläge des Möchtegern-Diktators Trump, am Tag seiner möglichen zweiten Amtseinführung, die Grenze zu Mexiko zu schließen, selbstverständlich nicht weiter", meint Greven. Das heiße aber nicht, dass er mit solchen Ideen keinen Erfolg haben kann.
Laut Denison ist die Zeit reif für Biden, das Thema Migration ernsthaft in Angriff zu nehmen. Ohne eine Verbesserung der Situation sei seine Wiederwahl ernsthaft gefährdet. "Dies gilt umso mehr, wenn es ihm nicht gelingt, die ständig steigende Zahl illegaler Grenzübertritte in den Griff zu bekommen", sagt er.
In dieser Krise liege aber auch die Möglichkeit, einen neuen Konsens zu schmieden, der Bidens Chancen auf eine Wiederwahl erhöhen würde.
Denison zufolge bewegt das Thema inzwischen nicht nur die Republikaner. "Demokratische Bürgermeister von Großstädten wie New York oder Denver sind inzwischen überwältigt von der hohen Zahl der Neuankömmlinge", sagt er. Die Demokraten erkennen, wie sehr die Republikaner von diesem Problem profitieren, wie die Einwanderung in den Umfragen zum Thema Nummer eins geworden ist.
Das gebe Biden demnach mehr Spielraum als je zuvor. Gleichzeitig seien die Ukraine und die Glaubwürdigkeit der USA für Biden von größter Bedeutung. Angesichts des Streits im Kongress sagt Denison: "Wer einwandern darf oder Asyl bekommt, kann man später wieder ändern. Gewinnt Russland in der Ukraine, ist eine spätere Kehrtwende nicht so einfach."