Die rechtsextreme Terrorbande NSU zog jahrelang mordend durchs Land: zehn Menschen fielen ihr zum Opfer. Der Islamist Anis Amri fuhr 2016 mit einem Lkw auf den Berliner Weihnachtsmarkt, 13 Menschen starben deshalb. Die zwei blutigsten Beispiele für Terrorismus in Deutschland seit der Jahrtausendwende. Sie geschahen unter dem Auge des Verfassungsschutzes, der für die Verteidigung gegen Extremisten zuständig ist.
Wie sieht die Lage heute aus? Ist der Verfassungsschutz besser in der Lage, die Bevölkerung zu schützen – oder braucht der deutsche Sicherheitsapparat ein Umstyling? Darüber hat watson mit Wissenschaftlern und Politikern gesprochen.
In den vergangenen Tagen war der Inlandsgeheimdienst wieder in den Schlagzeilen. Anlass dafür war ein Gastbeitrag, den die heutige Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Juli 2021, damals als hessische Landespolitikern, für das Magazin "antifa" geschrieben hatte. Die Zeitschrift wird von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN) herausgegeben. In dem Beitrag schreibt die Politikerin über die Drohschreiben unter dem Kürzel NSU 2.0, die unter anderem sie selbst und andere Politikerinnen erhalten haben.
Faeser musste sich jetzt, Ende Januar, Kritik für diesen Gastbeitrag anhören, vor allem aus der hessischen CDU. Der Anlass: Die VVN wird in Bayern – und nur dort – vom Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet. In Hessen nicht. Der Vorwurf an Faeser. Kurz gefasst: Sie sei auf dem linken Auge blind und spiele Linksextremismus herunter. Ihrem Vorgänger im Amt, Horst Seehofer, hatten Vertreter von Mitte-Links-Parteien lange das Gegenteil vorgeworfen: Blindheit auf dem rechten Auge.
Die Empörung um Faeser wirft wieder einmal die Frage auf, ob die Zerfaserung der deutschen Sicherheitsarchitektur weiterhin zielführend ist. Und die Frage, ob Verfassungsschützer bei bestimmten Extremisten weggucken.
Als Innenministerin ist Faeser unter anderem für die Bundespolizei und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) direkt zuständig. Die Landespolizisten sowie die Landesämter für Verfassungsschutz hingegen unterstehen den jeweiligen Landes-Innenministerinnen und -ministern.
Insgesamt, sagt Thomas Grumke, habe sich die Vorgehensweise der Verfassungsschutzämter in den vergangenen Jahren verbessert. Grumke ist Politikwissenschaftler und Professor an der Hochschule für Polizei und Verwaltung in Nordrhein-Westfalen. Er ist Extremismusforscher und ehemaliger Verfassungsschutz-Mitarbeiter.
Um zu erkennen, wie gut oder schlecht der Verfassungsschutz auf Länder- oder auf Bundesebene arbeite, müsse verstanden werden, wie er funktioniere, meint Grumke. Zuallererst sei festzustellen: Unter den 17 Behörden gebe es ein Ungleichgewicht. "Es sind natürlich nicht alle 16 Landesbehörden gleich groß und gleich gut ausgestattet", sagt Grumke.
Er fährt fort:
Gleichzeitig habe aber gerade die Kleinteiligkeit auch Vorteile, weil die Ämter vor Ort die Strukturen vor Ort am besten kennen. Es sei aber auch wichtig, dass diese Ämter, das Bundesamt, die Landespolizeidirektionen, das Bundeskriminalamt und die Bundespolizei sich untereinander austauschten.
Und das klappt mittlerweile aus Sicht von Grumke ganz gut:
"Vor allem das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum hat dazu geführt, dass sich die Kommunikation dramatisch verbessert hat", sagt der Professor. Das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) besteht seit 2004. Seine Aufgabe ist es, die Arbeit der deutschen Sicherheitsbehörden zu koordinieren. Grumke ergänzt: "Aber natürlich gibt es auch noch Luft nach oben, wie in jedem anderen Berufsfeld auch."
Der Kommunikationsaufwand sei dem besonderen Aufbau des deutschen Sicherheitssystems geschuldet. "Die deutschen Sicherheitsbehörden haben eine sehr spezielle Zusammenarbeit, weil wir eben die vorgelagerte Beobachtung durch den Verfassungsschutz haben", sagt Grumke. Das sei nahezu einmalig in der Welt. Bei akutem Terrorverdacht dürfen Verfassungsschützer niemanden selbst verhaften – sondern müssen ihre Informationen direkt an die zuständige Polizei weiterzugeben, damit diese zugreifen kann.
Diese Trennung von Beobachtung durch den Verfassungsschutz und Zugriff durch die Polizei sei ein Erbe der Weimarer Republik: Die Bundesrepublik Deutschland wollte nach dem Krieg eine wehrhafte Demokratie schaffen. "Der Verfassungsschutz beobachtet und berichtet über extremistische Entwicklungen", sagt Grumke.
Der Vorwurf, der Verfassungsschutz sei auf dem rechten Auge blind, liegt aus Sicht von Grumke oftmals darin begründet, dass die meisten Menschen nicht wüssten, wie die Sicherheitsbehörde arbeitet.
Grumke sagt:
Er räumt allerdings ein:
Die Berufung von Thomas Haldenwang, der 2018 Hans-Georg Maaßen an der Spitze des BfV ablöste, sei ein kompletter Gegenentwurf.
Eine Verbesserung stellte auch die Ernennung der beiden Vizepräsidenten des Bundesamts dar: Die seien nämlich nicht nur vom Fach (was innerhalb der Behörden nicht immer der Fall sei), sondern sie verbesserten die Arbeitsstrukturen innerhalb der Behörde.
Gerade in den kleineren Bundesländern ist es laut Grumke heute gang und gäbe, dass sie im Rahmen von Amtshilfe unterstützt würden – konkret bedeutet das, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz aushilft. "Es wäre natürlich überlegenswert, die Ämter der kleinen Bundesländer, wie dem Saarland oder Bremen, mit denen größerer Bundesländer zusammenzulegen", sagt der Politikwissenschaftler.
Es sei natürlich auch so, dass potenzielle Gefahr nicht an Bundeslandgrenzen haltmache. "Es ist also heute schon so, dass die Ämter von Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein zum Beispiel eng zusammenarbeiten", sagt Grumke.
Was aber alle Landesämter und auch das Bundesamt für Verfassungsschutz gemein hätten: "Sie sind Ämter", fasst der Politikwissenschaftler zusammen. "Das bedeutet, sie sind im größten Teil keine Forschungseinrichtungen, sondern eben Verwaltungen."
Das müsse sich ändern – und zwar durch Personalpolitik. "Es müssen Menschen eingestellt werden, die analysieren und nicht nur verwalten können", sagt Grumke.
Diese Analysefähigkeit müsste nach Grumkes Ansicht in den kommenden Jahren weiter gestärkt werden. "Schon nach 9/11 wurden Islamwissenschaftler eingestellt, da diese wichtige analytische Fähigkeiten mitbringen, die die Verwaltungsangestellten nicht haben: zum Beispiel Arabisch können", sagt Grumke. Im Bereich des Rechtsextremismus müsse dahingehend noch nachgesteuert werden.
Was sich aus Sicht Grumkes in Zukunft außerdem verbessern müsste, sei die Ausbildung der Mitarbeiter: Eine einheitliche Ausbildung gibt es nämlich bisher auf Landesebene nicht. "An der Hochschule des Bundes gibt es die Ausbildung für den gehobenen Dienst des Bundesamts, eine spezifische Ausbildung für Verfassungsschützer auf Landesebene gibt es nicht", sagt Grumke. Stattdessen säßen dort Verwaltungsangestellte oder ehemalige Polizisten.
Ob es tatsächlich noch alle sechzehn Landesämter braucht, hat auch die FDP-Fraktion im Bundestag infrage gestellt. "Zu oft sind in Deutschland zwar viele zuständig, aber wenn es darauf ankommt, keiner verantwortlich", heißt es in einem Gesetzentwurf der FDP aus dem Jahr 2019.
Nun, drei Jahre später, ist die FDP in der Regierung. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass es Neuerungen in der Sicherheitsarchitektur – beispielsweise die Stärkung der Sicherheitsbehörden, Gerichte und Justiz, die verbesserte nationale und europäische Zusammenarbeit zwischen Polizei und Justiz – geben soll.
Der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle schreibt auf watson-Anfrage, dass die vergangenen Jahre gezeigt hätten, dass Deutschland dringend ein "Update in der Sicherheitsarchitektur braucht". Er bewertet daher den Vorstoß der Ampel-Parteien positiv, den Föderalismusdialog auch im Bereich der inneren Sicherheit zu führen. Kuhle schreibt:
Auch CDU-Innenpolitiker Roderich Kiesewetter sieht Handlungsdruck für die Neuaufstellung der deutschen Sicherheitsbehörden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz sei auf die Zuarbeit der Landesämter angewiesen – "das wird von Extremisten inzwischen ausgenutzt".
Problematisch sei außerdem, dass die Vernetzung und Gefährdung von und durch Extremisten nicht an Bundeslandgrenzen haltmache – in Zeiten des Internets noch viel weniger. Kiesewetter schreibt auf watson-Anfrage:
Kiesewetter fordert eine Reform der deutschen Sicherheitsstruktur. "Landesämter sollten aus meiner Sicht Außenstellen des Bundesverfassungsschutzes werden", schreibt er.
Und weiter:
Ein weiteres Problem, auf das Kiesewetter Deutschland zusteuern sieht: Fachkräftemangel auch in allen Sicherheitsbehörden. Der CDU-Politiker hat aber auch eine Idee, wie dem entgegengewirkt werden könnte: durch eine Reform im Bundesfreiwilligendiensts – so könnten junge Menschen für das Berufsfeld begeistert und zivile Reserven geschaffen werden, die im Katastrophenfall andere Blaulichtbehörden unterstützen können.
Kiesewetter meint:
Insgesamt, so Kiesewetter, müsse die deutsche Sicherheitsarchitektur in allen Bereichen resilienter – also anpassungsfähiger – sein.
Unzufrieden mit dem Status Quo zeigt sich auch SPD-Innenpolitiker Uli Grötsch. Aus diesem Grund habe sich die Ampel-Regierung vorgenommen, die Sicherheitsarchitektur einer Gesamtbetrachtung zu unterziehen. "Ziel ist immer, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu steigern", schreibt Grötsch auf watson-Anfrage. Er fügt aber an, dass die Sicherheitsgesetze des Staates im Gleichgewicht mit den Grund- und Freiheitsrechten stehen müssten.
Im Koalitionsvertrag ist beispielsweise die Rede von hohen Hürden für den Einsatz von Überwachungssoftware.
Die Gesamtbetrachtung soll dazu führen, dass bei Bedarf nachjustiert werden könnte – andere Vorkehrungen aber auch zurückgenommen würden, wenn sie als nicht sinnvoll erachtet werden. Für diese Bewertung soll ein unabhängiges Expertengremium eingeführt werden.
Auch die von Kiesewetter geforderte Anpassungsfähigkeit unterstreicht der Sozialdemokrat. Er schreibt:
Mit der Coronapandemie habe sich beispielsweise auch ein neuer Bereich innerhalb des Bundesamts für Verfassungsschutz ergeben: "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates". Dort werden verfassungsfeindliche Bestrebungen der Corona-Leugner-Szene bearbeitet.
Mit einer Reform und Weiterentwicklung des Verfassungsschutzes möchte sich der Linken-Politiker und Innenexperte André Hahn, wie wohl die meisten seiner Partei, nicht zufriedengeben. Er will den Geheimdienst komplett abschaffen.
Hahn erklärt gegenüber watson:
Hahn spricht sich dafür aus, dass zunächst das V-Leute-System – also das System der Spitzel des Verfassungsschutzes – und die möglichen Verstrickungen mit der extremen Rechten aufgeklärt und beendet werden müssten. Er bringt den NSU-Komplex an, der für Hahn und seine Fraktion exemplarisch dafür stehe, dass "das Bundesamt für Verfassungsschutz, aber beispielsweise auch das hessische Landesamt für Verfassungsschutz nicht Teil der Lösung sind, sondern Teil des Problems."
Zur Terrorismusbekämpfung sollten künftig die Hinweise von ausländischen Geheimdiensten und anderer Behörden vom Bundeskriminalamt bearbeitet und geahndet werden. Hahn sieht auch im Bereich der Abwehr von Cyberangriffen keine Notwendigkeit für einen Inlandsgeheimdienst. Er schreibt:
Dass sich die Arbeit, Ausstattung und Funktion der deutschen Sicherheitsarchitektur verbessern muss, darin sind sich die Politiker der verschiedenen Parteien einig. Klar ist auch, dass jeder von ihnen eigene Herangehensweisen hätte.
Die Ampel hat in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten, die wehrhafte Demokratie aufrechterhalten und stärken zu wollen. Der Verfassungsschutz soll also nicht wie von den Linken gefordert abgeschafft werden. Stattdessen soll die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste ausgebaut werden.