Nach den schmachvollen Niederlagen vor Kiew, der Flucht der russischen Truppen aus der Gegend um Charkiw und jetzt – falls es tatsächlich keine Falle ist – dem Rückzug aus Cherson, müsste Wladimir Putin eigentlich erledigt sein. Viel mehr militärisches Desaster geht nicht. Doch davon gibt es bisher keine Anzeichen. Stattdessen macht es den Anschein, als würde der russische Präsident nach wie vor fest im Sattel sitzen. Denn wie man die Macht sichert, hat er von seinem Vorbild gelernt, von Josef Stalin.
Stalin schmort heute hoffentlich an einem ganz speziellen Ort in der Hölle. Zusammen mit Hitler und Mao gehört er zu den größten Massenmördern des letzten Jahrhunderts. Seine Gegner hat er zu hunderttausenden erschießen oder in die Gulags, die berüchtigten Straflager der Sowjetunion, verfrachten lassen. Die eigenen Bauern lieferte er millionenfach dem Hungertod aus.
Die Macht sicherte sich Stalin mithilfe der Tschekisten, den berüchtigten Geheimdienstmännern des NKWD, später KGB, heute FSB. Bevor er Regierungschef unter Boris Jelzin und dann Präsident wurde, war Putin Chef des FSB und regiert heute wie einst Stalin mithilfe der Geheimdienstleute, der sogenannten Silowiki.
Im Magazin "Foreign Affairs" zählt Andrei Kolesnikov eine ganze Reihe von weiteren Parallelen zwischen Putin und Stalin auf. Kolesnikov ist Senior Fellow am Carnegie Endowment for International Peace, einer Denkfabrik in Washington.
Angesichts der unfassbaren Gräueltaten müsste Stalin in Russland so verfemt sein wie Hitler in Deutschland. Ist er aber nicht. Im Gegenteil, mehr als die Hälfte der Russen betrachtet ihn heute noch als "großen Führer". Damit dies auch so bleibt, hat Putin kürzlich Memorial einstellen lassen, eine Organisation, welche zum Ziel hatte, Stalins Verbrechen aufzuarbeiten.
Russland nimmt derweil zunehmend den Charakter der UdSSR zu Zeiten von Stalin an. "Im Jahr 2022 ist Russland eine vollwertige Autokratie geworden" stellt Kolesnikov fest.
Putin kopiert auch das Verhalten von Stalin. Hier ein paar Beispiele:
Allerdings gibt es auch einen markanten Unterschied. Unter Stalin hat die Rote Armee Hitlers Truppen niedergerungen, wenn auch unter unglaublichen Opfern. Damit wurde die UdSSR nicht nur gerettet, Moskau konnte in der Folge sein Einflussgebiet bis an die Grenze von Westdeutschland ausdehnen.
Putin möchte gerne die imperiale Macht der ehemaligen Sowjetunion wiederherstellen. Mit seinem desaströsen Feldzug gegen die Ukraine erreicht er hingegen genau das Gegenteil. Michael Khodarkovsky, Geschichtsprofessor an der Loyola University Chicago, stellt in einem Gastkommentar im "Wall Street Journal" fest: "Anstatt sein Land zu neuer Größe zu führen, könnte Mr. Putin über das letzte russische Imperium herrschen."
Russland ist nicht nur riesig groß, es umfasst auch insgesamt 21 Republiken. Nach dem Zerfall der UdSSR musste Moskau diesen ein gewisses Maß an Autonomie zugestehen. In vielen dieser Republiken befinden sich Muslime in der Mehrheit, ja es gibt gar die These, wonach bis zur Mitte dieses Jahrhunderts die Russen die Minderheit in Russland darstellen werden.
Putin hatte demnach auch einen in der Demografie seines Landes begründeten Anreiz, die Ukraine zu überfallen. "Er ist teilweise auch in der Ukraine einmarschiert, um den Anteil der slawischen Bevölkerung in Russland zu erhöhen", so Khodarkovsky.
Diese Rechnung scheint nicht aufzugehen. In den nicht-russischen Republiken wie Dagestan, Bashkortostan und Sibirien wächst der Widerstand, die Mütter in diesen Regionen sind nicht mehr bereit, ihre Söhne für diesen sinnlosen Krieg zu opfern.
Khodarkovsky verweist auf den Zaren vor dem Ersten Weltkrieg, der ebenfalls Muslime aus Zentralasien in die Schlachten warf und damit im Sommer 1916 einen Aufstand provozierte, der letztlich zu seinem Sturz führte.
"Indem es schlecht ausgebildete nicht-russische Männer in die Ukraine schickt, könnte Moskau bald ein ähnliches Schicksal erleiden" so Khodarkovsky.