Wladimir Putin will nachrüsten.
Der russische Präsident hat angekündigt, seine Armee im kommenden Jahr um 137.000 Soldat:innen aufzustocken. Das Dekret des Präsidenten sieht vor, dass die Truppe auf 1,5 Millionen Soldat:innen anwächst. Bisher sind zwischen 15.000 und 20.000 russische Soldat:innen im Krieg gegen die Ukraine gestorben. So zumindest schätzen der amerikanische und der britische Geheimdienst die Zahlen ein. Der Kreml weist sie als "Fake" zurück.
Mauro Mantovani bewertet das russische Dekret für watson. Er ist Professor an der Militärakademie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) und lehrt im Bereich Strategie. Er sagt:
Auch Expert:innen vom "Institut for the Study of War", einer Denkfabrik, gehen nicht von einer baldigen Massenmobilisierung aus. Wahrscheinlich versuche das russische Militär, Verluste auszugleichen, schreiben die Wissenschaftler:innen in ihrer Einschätzung vom 25. August.
Die Ankündigung deute außerdem darauf hin, dass Putin eine vollständige Mobilisierung zu vermeiden versuche. Insgesamt, so die Expert:innen, sei es unwahrscheinlich, dass der Kreml genügend Soldat:innen zusammentrommele, um auf die per Dekret vorgegebene Anzahl zu kommen. Außerdem seien die Ausbildungsmöglichkeiten der russischen Truppe durch den Krieg in der Ukraine beschränkt.
Mauro Mantovani geht davon aus, dass die zusätzlichen Soldat:innen im Rahmen der ordentlichen Aushebung, also der Rekrutierung, im Oktober 2022 gewonnen werden. Es könnte aber auch weitere Kampagnen zur Anwerbung von Zeitsoldaten, also sogenannten "Kontraktniki" geben.
Eine andere Möglichkeit, wie die angekündigte Truppenstärke erreicht werden könnte, ist aus Sicht der Expert:innen der Denkfabrik, die Eingliederung der Truppen in Donezk und Luhansk. Diese gehörten bisher nicht offiziell zum russischen Militär. Allerdings, fassen die Expert:innen zusammen, würde das nichts an der Schlagkraft der Armee verändern.
Für die Stimmung im eigenen Land dürfte das neue Dekret ein Dämpfer sein, schätzt Mantovani. Er sagt:
Da das Dekret erst ab Januar 2023 greife, dürfte ein Nachschub an Soldaten auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz nicht so rasch feststellbar sein, meint Mantovani.
Der Angriffskrieg frisst seine Kinder. Und er dauert nun schon länger, als sich das der Kremlchef möglicherweise vorgestellt hat. Denn die Ukrainer:innen wehren sich ausdauernd. Und auch auf ihrer Seite gibt es viele Verluste – darunter viele Zivilist:innen.
Die Ukraine hatte am Mittwoch den 31. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion begangen – genau ein halbes Jahr nach dem russischen Überfall vom 24. Februar. Vorab hatte Kiew vor zusätzlichen russischen Angriffen am Jahrestag gewarnt. Tatsächlich wurde dann unter anderem abends der Raketeneinschlag auf die Bahnanlagen im Ort Tschaplyne des zentralukrainischen Gebietes Dnipropetrowsk gemeldet.
"Tschaplyne ist heute unser Schmerz", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner regelmäßigen Videoansprache. Bis Donnerstag stieg die Zahl der Todesopfer nach ukrainischen Angaben auf mindestens 25, darunter zwei Kinder. Zudem seien 31 Menschen verletzt worden, erklärte der Vizechef des Präsidentenbüros, Kyrylo Tymoschenko, auf Telegram. Die Informationen ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Das russische Verteidigungsministerium lieferte eine andere Version: Getötet worden seien bei dem Schlag mit einer Iskander-Rakete mehr als 200 ukrainische Soldaten, die für Kämpfe im Donbass bestimmt gewesen seien, sagte Sprecher Igor Konaschenkow. Die Rakete sei in den militärischen Teil der Bahnstation eingeschlagen. Dabei sei auch Militärtechnik zerstört worden. Belege gab es auch dafür nicht. Kiew hatte von Beschuss von bewohntem Gebiet gesprochen.
Die Ukraine und internationale Experten werfen Russland immer wieder Angriffe auf Zivilisten und Kriegsverbrechen vor. Auch international geächtete Streumunition hat Russland seit Beginn des Krieges in hunderten Fällen eingesetzt, wie die internationale Streumunition-Koalition in Genf berichtete. Bis Ende Juni seien mindestens 215 Menschen getötet und weitere 474 durch Streumunition verletzt worden, hieß es.
Auch auf ukrainischer Seite wurde der Einsatz dieser Munition in drei Fällen registriert. Es handelt sich um Behälter, die aus Flugzeugen oder Raketenwerfern abgeschossen werden und viele kleine Sprengsätze großflächig verteilen. Ein Übereinkommen von 2008 verbietet den Einsatz von Streumunition, doch weder Russland noch die Ukraine gehören ihm an.
(Mit Material von dpa)