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Russland hat Momentum in Tschassiw Jar: Ukraine wehrt sich mit Streumunition

29.02.2024, Ukraine, Tschassiw Jar: Ein ukrainischer Panzer der 17. Panzerbrigade feuert auf russische Stellungen. Foto: Efrem Lukatsky/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Ein ukrainischer Panzer feuert auf russische Stellungen in der Stadt Tschassiw Jar.Bild: AP / Efrem Lukatsky
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Ukraine-Krieg: Militärexperte warnt – "russische Überlegenheit bleibt bestehen"

07.06.2024, 19:17
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Wegen schwerer Kämpfe und fehlender Hilfen droht die Ukraine den Kampf gegen Russland zu verlieren, warnte Präsident Wolodymyr Selenskyj im April. Vor allem im Osten des Landes sehe die Lage kritisch aus.

Ein Weckruf, der wohl beim Sprecher des US-Repräsentantenhauses, Mike Johnson, ankam. Nach monatelangen Einwänden der Republikaner, machte er am Ende doch noch den Weg für die Militärhilfen im Wert von 60 Milliarden Dollar für die Ukraine frei.

Ein wichtiger Schritt, der bereits Wirkung zeigt.

Ukraine-Krieg: Munitionsmangel legt sich, Russland bleibt überlegen

"Die Munitionslage entspannt sich langsam, Schritt für Schritt. Dennoch besteht bis auf Weiteres eine russische Überlegenheit von 5:1", sagt Militärexperte und Oberst a.D. Ralph Thiele auf watson-Anfrage.

Ihm zufolge bedienen die westlichen Partner den dringendsten ukrainischen Bedarf an der Front, darunter Artilleriemunition, Flugabwehrraketen und Panzer brechende Waffen. "Allerdings bleibt die russische Überlegenheit bestehen", sagt Thiele vom Institut für Strategie-, Politik-, Sicherheits- und Wirtschaftsberatung (ISPSW).

In this photo provided by the 24th Mechanised brigade press service, Ukrainian soldiers prepare to fire 120mm mortar towards Russian position on the front line at undisclosed location in Donetsk regio ...
Ohne die Unterstützung aus dem Westen kann die Ukraine der russischen Invasion nicht standhalten. Bild: Press service of 24 Mechanised brigade / Oleg Petrasiuk

Man müsse davon ausgehen, dass die russischen Streitkräfte weiterhin taktisch und operativ bedeutende Gewinne erzielen, bevor die US-Militärhilfe die ukrainischen Truppen an der Front in großem Umfang erreicht.

Besonders im Fokus stehen derzeit die Regionen um Charkiw und die Stadt Tschassiw Jar.

Ukraine setzt wohl Streumunition in Tschassiw Jar ein

Besonders heftig seien die Kämpfe in Tschassiw Jar im Bezirk "Kanal", schreibt Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov von der Freien Universität Berlin Ende Mai auf X. Ihm zufolge haben sie sich zu einer schweren Stellungsschlacht entwickelt. "Vorrücken gelingt, wenn überhaupt, nur meterweise und zu hohen Verlusten."

Auch Wochen später haben die russischen Streitkräfte laut Thiele bislang "das Momentum" in Tschassiw Jar: "Sie haben hier begrenzte Geländegewinne und haben ihre Angriffe verstärkt", sagt er.

Bei der Schlacht um die Stadt greifen sowohl die Ukraine als auch Russland auf schwere Geschütze zurück.

Gerasimov spricht von einem massiven Einsatz der gesamten vorhandenen Palette an Artillerie durch beide Seiten. Russland feuert laut ihm thermobarische Geschosse auf ukrainische Positionen. Die Ukraine setze Streumunition gegen vorrückende russische Sturmtruppen ein.

Im Sommer 2023 empörten die USA mit ihrer Ankündigung, der Ukraine Streumunition für ihren Abwehrkampf liefern zu wollen. Streumunition (auch Clustermunition genannt) gilt international als geächtet. Sie tötet und verwundet wahllos über große Flächen hinweg.

Im völkerrechtlichen Vertrag, dem sogenannten "Oslo-Übereinkommen", wurde 2010 etwa das Verbot des Einsatzes von Streumunition festgelegt. Das haben aber weder Russland, die Ukraine noch die USA unterschrieben. Demnach verstoße man in diesem Fall nicht per se gegen das Völkerrecht, lautet das Argument der Befürworter:innen.

"Streitkräfte in Bedrängnis greifen auf alle Waffen und Munitionsarten zurück, die in schwierigen Lagen helfen können", sagt Thiele. Streumunition eröffnet ihm zufolge im Einsatz zahlreiche militärisch nützliche Funktionen.

Er führt aus:

"Sie besteht aus einer größeren Hülle, die viele kleinere Submunitionen enthält, die Ingenieure für unterschiedliche Aufgaben jeweils maßgeschneidert haben. Für den Einsatz über ein großes Gebiet verteilt können diese Submunitionen eine größere Fläche abdecken als einzelne Bomben oder Granaten."

Daher seien sie effektiv gegen Ziele wie Infanterie oder leichte Fahrzeuge, die sich über größere Flächen verteilen.

Aber Streumunition sei wegen ihrer mangelnden Präzision und der Gefahr von Blindgängern, die Unbeteiligte verletzen oder töten können, weltweit umstritten, betont der Militärexperte. Zahlreiche Staaten haben deshalb deren Nutzung, Produktion und Lagerung verboten. Aber: "Den Luxus, sie im Kampf auf Leben und Tod nicht zu benutzen, muss man sich leisten können", meint er.

Ein Luxus, den die Ukraine in ihrer derzeitigen Lage offenbar nicht hat.

Ukraine drängt Russland in Charkiw "mit großem Aufwand" zurück

Auch in der Region Charkiw müssen die ukrainischen Streitkräfte Russland abwehren. "Weitgehend erstarrt ist die Frontlinie nun auch im Norden der Charkiwer Region", berichtet Gerasimov in seinem Lagebericht Ende Mai. Beide Seiten meldeten ihm zufolge übereinstimmend, dass die Kämpfe in dem Gebiet "Positionscharakter" wie an vielen anderen Frontabschnitten annehme.

Doch bei Charkiw können die Ukrainer:innen wohl zunächst aufatmen.

Mittlerweile ist es den ukrainischen Truppen laut Thiele "beherzt und mit großem Aufwand" gelungen, den russischen Einbruch weitgehend zu stoppen und den Russen jenseits der Grenze empfindliche Schläge zuzufügen.

Die Lage sei entlang der Front in der Ostukraine weiterhin "labil und brüchig", aber mit einer leicht positiven Tendenz für die Ukraine, meint der Militärexperte. Dennoch verzeichnen die russischen Aggressoren kleinere Geländegewinne. Erst kürzlich seien sie östlich von Kupjansk, in der Nähe von Tschassiw Jar, westlich von Awdijiwka und südwestlich von Donezk vorgerückt.

"Bei Kupjansk versuchen russische Truppen, eine ukrainische Verteidigungslinie zu durchbrechen. Von daher geht bislang der russische Plan auf, über die Angriffe auf Charkiw andere Frontabschnitte zu schwächen", führt Thiele aus.

Auf dem politischen Parkett wird unterdessen diskutiert, ob die Ukraine mit westlichen Waffen auch russische Gebiete angreifen dürfe. Kiew fordert das schon seit Langem. Im Westen wurde dies lange Zeit abgelehnt, doch nun kippt die Stimmung.

Gefahr oder Vorteil? Der Einsatz westlicher Waffen gegen Russland

Präsident Joe Biden erteilt der Ukraine die Erlaubnis, mit von den USA gelieferten Waffen Ziele in Russland anzugreifen – allerdings nur in der Nähe der Region Charkiw. Die gleiche Erlaubnis sprach kurz danach auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) für deutsche Waffen aus. Dabei lehnte er solch ein Vorhaben lange ab, da es laut ihm eine "rote Linie" überschreitet.

"Auf taktischer Ebene ist das eine Selbstverständlichkeit und nicht der Rede wert", meint Thiele über den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Territorium. Aber: "Leider wird man davon ausgehen können, dass nicht nur die Ukraine selbst, sondern auch westliche Politiker und Medien einen Freibrief wollen, schmerzhafte Angriffe auf das russische Hinterland durchführen zu können."

An dieser Stelle beginne die Gefahr für den Weltfrieden, warnt Thiele.

Man könne dann damit rechnen, dass Putin ein Exempel statuieren werde, das den Westen selbst spüren lasse, wie sich Krieg anfühlt. "Protagonisten einer massiveren westlichen Kriegsbeteiligung geben vor, dem Frieden zu dienen. Tatsächlich treten sie kinetische und hybride Flächenbrände los", meint der Militärexperte.

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Die taktische – und damit begrenzte – nukleare Option bleibe Putins letzte Wahl vor einem großen Krieg. "Der hybride Krieg gegen den Westen ist aber derzeit seine beste Wahl, denn der Westen schaut in seiner Verteidigung nicht so genau hin", führt Thiele aus.

Die Russland-Experten Stefan Meister und Andreas Umland äußerten sich in einem früheren Gespräch mit watson weniger besorgt über den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Gebiet.

"Russland eskaliert in diesem Krieg, ob mit Zerstörung von militärischer Infrastruktur in Russland mit oder ohne deutsche Waffen", sagt Meister. Laut ihm lädt die Begrenzung Russland eher dazu ein, weiter zu eskalieren.

"Die Zögerlichkeit von Scholz, anderen Politiker:innen und auch etlicher Expert:innen beruht auf einer grundsätzlichen Fehleinschätzung der Bestimmungsfaktoren russischer internationaler Verhaltensmodi", meint Umland.

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