Brennende Autos und Mülltonnen, Steinwürfe und Pyrotechnik, die Polizei kesselte rund 1000 Menschen, darunter auch Minderjährige, stundenlang ein.
Am Wochenende hat es in Leipzig nach dem Urteil gegen Lina E. unter anderem wegen Gewalttaten gegen Rechtsextreme wiederholt Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstrierenden gegeben.
Einer Polizeisprecherin zufolge hatte es am Wochenende gegen fünf Menschen einen Haftbefehl gegeben, Männer im Alter zwischen 20 und 32 Jahren. Der Vorwurf: Landfriedensbruch.
Indes werfen Linken-Politiker:innen der Polizei vor, die Lage eskaliert zu haben.
Immer wieder kommt es zu Situationen, in denen der Polizei Machtmissbrauch vorgeworfen wird, Unverhältnismäßigkeit. Was diesen Vorwurf bestärkt: Die Polizeigesetze werden ständig ausgeweitet. Vorratsdatenspeicherung, Präventivhaft, Versammlungsverbot – die Liste ist lang.
Viele befürchten, dass diese angebliche Bestärkung der Sicherheit zulasten der Freiheit führt. Watson hat beim Bundesinnenministerium und der Gesellschaft für Freiheitsrechte nachgefragt.
Die Ausschreitungen am sogenannten "Tag X" in Leipzig am Wochenende sind nur eines von vielen Geschehnissen, bei denen die Befugnisse der Polizei in Deutschland hinterfragt werden. Zuletzt sorgte auch die Ausweitung der Präventivhaft in Berlin für Aufsehen.
Dadurch können beispielsweise Fußballfans oder Aktivist:innen der Gruppierung Letzte Generation in Deutschland bis zu 30 Tage, wie etwa in Ausnahmefällen in Bayern, festgehalten werden. Ohne Haftbefehl und ohne überhaupt eine Straftat begangen zu haben.
An anderen Stellen wurde die Macht der Polizei per Gerichtsbeschluss wieder beschnitten. Wie etwa bei der Regelung zur automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten. In Hessen und in Hamburg wurden diese zu Beginn des Jahres durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt.
Hier verstießen die Polizeigesetze der beiden Länder gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Persönlichkeitsrecht. So das Urteil des Ersten Senats.
In Mecklenburg-Vorpommern gab es im selben Zeitraum ein ähnliches Urteil. Dort waren die ausgeweiteten Überwachungsbefugnisse der Polizei in Teilen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, also verfassungswidrig.
Diese Debatten sind nur Puzzleteile eines ewigen Dilemmas: Sicherheit versus Freiheit. Wie viel Sicherheit brauchen wir? Und ab welchem Zeitpunkt geht sie zulasten der Freiheit?
Das Urteil in Mecklenburg-Vorpommern erging aufgrund einer Verfassungsbeschwerde, die durch die Gesellschaft für Freiheitsrechte koordiniert wurde. Der gemeinnützige Verein will unter anderem Überwachung und digitale Durchleuchtung begrenzen. Sie setzt sich für die Freiheit der Menschen in Deutschland ein.
Der Gegenpol in diesem Dilemma ist die Sicherheit. Ob mehr Sicherheit automatisch zu weniger Freiheit führt – und umgekehrt – darüber wird immer wieder diskutiert.
Doch so leicht trennen lassen sich diese beiden Grundrechte nicht, was bereits ein Blick in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vermuten lässt. "Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit", heißt es dort in Artikel 6.
"Freiheit und Sicherheit stehen zueinander in einem komplexen Verhältnis", erklärt Bijan Moini, Leiter des Legal Teams der Gesellschaft für Freiheitsrechte, auf watson-Anfrage. Die Schwierigkeit dabei sei – und eben auch der Streitpunkt – das Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit gut auszutarieren.
Dieses Verhältnis beschreibt Moini so:
Im Grundgesetz werden den Menschen in Deutschland sowohl Freiheit als auch Sicherheit zugestanden. Zum einen ist "die Würde des Menschen unantastbar", es gelten Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit. Zum anderen ist es Sache des Staates, die Würde des Menschen zu schützen: "Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt", Artikel 1, Grundgesetz.
Moini erklärt: "Das Grundgesetz schützt viele verschiedene Freiheiten vor staatlichen Übergriffen, etwa die freie Meinungsäußerung oder das Recht, sich friedlich zu versammeln." Aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit könne man wiederum einen Anspruch an den Staat ableiten, uns vor Gefahren durch Dritte (und ihn selbst) zu schützen.
Der Ruf nach mehr Sicherheit wird vor allem dann laut, wenn es Angriffe auf die öffentliche Sicherheit gibt. Etwa nach den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA, nach der terroristischen Anschlagswelle von Paris 2015 oder dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz 2016.
Die Grenzen zwischen Sicherheit und Freiheit können sich verschieben, wenn die Politik versucht, dieses Bedürfnis nach mehr Sicherheit zu stillen. "Oft durch strengere Polizeigesetze, mehr Überwachungsbefugnisse, härtere Strafen", sagt Moini.
Allerdings schlage der Gesetzgeber dabei häufig über die Stränge, beklagt der Leiter des Legal Teams der Gesellschaft für Freiheitsrechte. "Klagt jemand gegen solche Bestimmungen, können sie vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben werden." Wie etwa im Falle der Polizeigesetze zur Verarbeitung personenbezogener Daten.
Ein Sprecher des SPD-geführten Bundesinnenministeriums, und somit der Seite pro Sicherheit in der Debatte, erklärt auf Anfrage von watson: "Zu den wichtigsten Aufgaben der Innenpolitik gehört es, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten." Dazu gehöre auch der Schutz der Bürger:innen vor Gewalt, Verbrechen und Terror sowie den Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung.
Er betont zudem:
Anmerkung zur Transparenz: Die Statements wurden watson vor den Ausschreitungen an "Tag X" in Leipzig gegeben.
Vor allem vonseiten der Linken gab es nach den Ausschreitungen am "Tag X" Kritik am Vorgehen der Polizei. Ihr Parlamentsgeschäftsführer im sächsischen Landtag, Marco Böhme, warf der Polizei bei Twitter mehrfach eine Eskalation der Lage durch das "faktische Verbot" der Demonstrationen vor.
Trotz des endgültigen Verbots einer großen "Tag X"-Demonstration war die Polizei mit einem Großaufgebot in der Stadt, kesselte die Demonstrierenden teils stundenlang zur Aufnahme von Personalien ein. Videos zeigen teilweise ein offenbar brutales Vorgehen der Beamt:innen.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) wiederum verteidigte das Vorgehen der Polizei. Er schrieb bei Twitter: "Das Ziel ist, Menschen und Sachwerte zu beschützen und Gewalttäter festzunehmen."
Ist die Gewalt, mit der die Polizei beispielsweise gegen Demonstrierende, wie auch die Letzte Generation, vorgeht, unverhältnismäßig, wird sie demnach gefährlich.
Moini sagt:
(Mit Material der dpa)