Der Krieg in der Ukraine tobt weiter.
Eigentlich wollte der russische Präsident seine Truppen von der Hauptstadt Kyjw abziehen. Eigentlich. Aktuell rechnet die Nato damit, dass Wladimir Putin seine Truppen vielmehr neu positioniert. Für den nächsten Schlag.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskj hat währenddessen nahezu jedes demokratische Parlament dieser Welt besucht. Er war im US-Kongress zugeschaltet, im Parlamento della Repubblica Italiana und im Deutschen Bundestag. Er warb um Unterstützung. Um Waffen, um Sanktionen, um einen geschlossenen Luftraum.
"Close the sky", ist eine Forderung, die nun auch immer wieder auf Demonstrationen in Deutschland und im Rest der Welt zu hören ist. Im Klartext hieße das aber: Nato-Staaten müssten russische Kampfflugzeuge abschießen, wenn die über der Ukraine unterwegs sind.
Debatten über das Für und Wider der Wehrpflicht sind zurück. Die Bundesregierung hat jüngst angekündigt, 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr auf den Weg bringen zu wollen. "Fünf Korvetten, 50 Kampfjets, 350 Puma-Panzer – Wie Deutschland aufrüstet", schreibt das "Handelsblatt". Wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtet, steigt die Zahl derer, die sich bei der Bundeswehr ausbilden lassen möchten.
Die Zeiten, in denen viele Deutsche mit gutem Gewissen "Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin" von Mono und Nikitaman gesungen haben, scheinen vorbei. Vielleicht, weil diese Utopie mittlerweile ausgeträumt ist. Stattdessen haben 69 Prozent der Deutschen Angst vor einem Dritten Weltkrieg.
Das ist das Ergebnis einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag von RTL und n-tv durchführte. Im Jahr 2014 hatten noch 53 Prozent der Menschen angegeben, nicht daran zu glauben, dass in Europa noch einmal Krieg herrschen würde.
Ist es also Kriegslust oder einfach Angst? Was macht der Ukrainekrieg, der nur wenige Flugstunden entfernt stattfindet, mit uns als Gesellschaft? Darüber hat watson mit dem Politikwissenschaftler Stephan Stetter von der Universität der Bundeswehr in München gesprochen.
Die Deutschen hätten Angst, meint Stephan Stetter. Und sie seien sich in weiten Teilen einig, dass es sich um einen russischen Angriffskrieg handele, der nicht vom Westen geschürt wurde. Und aus dieser Haltung leiteten sich zwei weitere Phänomene ab.
Zum einen: Eine große Solidarität mit der Ukraine.
Stetter sagt:
Zum anderen: eine große Bereitschaft, dagegenzuhalten – zur Not auch militärisch.
Stetter sagt:
Und diese Bereitschaft speise sich daraus, dass die Deutschen sich sehr einig sind, wer der Aggressor ist. Und aus der Angst vor dem Krieg im eigenen Land. "Ich würde sagen, es ist keine Kriegslust, sondern eine Kriegsangst, die man beobachten kann", fasst Stetter zusammen. Die Antwort auf diese Angst sei die Unterstützung von Maßnahmen, die dem militärischen Schutz dienten.
Das Konzept der Abschreckung.
Aus Sicht des Politikwissenschaftlers ist die Abschreckung ein stabilisierendes Instrument. "Die ganze Nato baut auf diesem Grundsatz auf", sagt er. Durch den Beistandsartikel fünf ist geregelt, dass Nato-Staaten im Falle eines Angriffs auf einen von ihnen gemeinsam kämpfen. Hinter der jetzigen Aufrüstung stecke letztlich der Versuch, Staaten wie Russland zu zeigen: "Wir können uns wehren."
Natürlich berge eine Aufrüstung auch ein gewisses Eskalationspotenzial. "Aber hier kann man die Gegenfrage stellen: Wie hoch wäre das Eskalationspotenzial, wenn wir die Abschreckung nicht hätten?", fragt Stetter.
Dass diese Sorgen im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg größer sind als im Zusammenhang mit den Kriegen im Nahen oder dem Mittleren Osten, liegt aus Sicht des Politikwissenschaftlers an der regionalen Sicherheitsarchitektur. Europa ist direkt betroffen. Denn auch wenn alles auf der Welt zusammenhänge – zum Beispiel die Erderhitzung oder auch Flüchtlingsbewegungen – betreffe nicht alles die regionale Sicherheit.
"Die Geflüchteten aus Syrien und Afghanistan haben zu innenpolitischen Debatten geführt, aus denen die AfD Kapital geschlagen hat", sagt Stetter. Mit der europäischen Sicherheitsarchitektur hätten sie aber nichts zu tun. Das sei mit Blick auf die Ukraine anders: Dadurch, dass der Krieg nun vor den Grenzen der EU stattfinde, komme diese Sicherheitsstruktur ins Wackeln. Und das schaffe eben Angst, meint Stetter.
Was Stetter bei einer Umfrage, die er vor kurzem durchgeführt hat, nach eigener Aussage aufgefallen ist: Die Unter-40-Jährigen sind aufgeschlossener, was das militärische Vorgehen der internationalen Gemeinschaft angeht, als ältere Menschen. Konkret sei gefragt worden, ob die internationale Gemeinschaft eingreifen solle, wenn der Iran nuklear aufrüstet.
Stetter sagt:
Dass sich das Verhältnis zum Militär normalisiere, liege aber nicht daran, dass die Erinnerung an die NS-Zeit abflaue. "Auch hier haben die Menschen unter 40 Jahren in der Studie angegeben, dass definitiv kein Schlussstrich gezogen werden darf, da die deutsche Vergangenheit ganz zentral und Teil unserer Identität ist", sagt Stetter.