Nicht genehmigte "Querdenker"-Demo in München. Bild: www.imago-images.de / Timo Weber
Analyse
"Wenn Kinder als Schutzschilde genutzt werden, ist das eine neue Eskalationsstufe": Wie sich die Bewegung hinter den Corona-Protesten verändert hat – und wie es 2022 weitergehen könnte
Es ist das zweite Jahr in Folge, das mit Schlagzeilen über die Pandemie endete – und mit Nachrichten über die Bewegung hinter sogenannten Corona-Demos, den Protestveranstaltungen gegen Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen und, seit 2021, gegen die Covid-19-Impfung. Ende 2020 ging es darum, dass Michael Ballweg, der Gründer der "Querdenken"-Bewegung, eine Pause einlegte. Jetzt waren es die vielen Demonstrationen an unterschiedlichen Orten in Deutschland, die für Aufsehen sorgten.
Polizei wirft Demonstranten vor, Kinder als "Schutzschild" zu benutzen
In München zogen etwa am Mittwochabend mehrere tausend Menschen durch die Innenstadt, teils in Gruppen von mehr als 100 Personen. Dabei hatten die Organisatoren eine ursprünglich für den Abend angekündigte Demonstration mit bis zu 5000 Teilnehmern kurz zuvor abgesagt – weil sie mit den gerichtlich bestätigten Auflagen nicht einverstanden waren.
Die Polizei stoppte die Demonstranten und stellte die Personalien fest. Nach Polizeiangaben wurden rund 700 Ordnungswidrigkeitsanzeigen erstellt sowie Strafanzeigen gegen zwei Personen, die eine "verantwortliche Rolle" gespielt hätten. Etwa 1300 Menschen erhielten Platzverweise, in rund 220 Fällen habe die Polizei "drücken und schieben" müssen. In ungefähr zehn Situationen nutzten Beamte demnach einen Schlagstock. Etwa 20 Personen erhielten eine Strafanzeige etwa wegen Widerstands gegen die Polizei.
Eine auffällige Entwicklung bei den Corona-Protesten: Die Demonstrierenden nehmen augenscheinlich häufiger Kinder dorthin mit, wodurch diese in Gefahr geraten können. Im nordbayerischen Schweinfurt etwa wurde ein vierjähriges Kind verletzt, als seine Mutter versuchte, eine Polizeiabsperrung zu durchbrechen und die Polizisten Pfefferspray einsetzten. Michael Mertens, stellvertretender Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) sagte zu dem Vorfall: "Es ist verwerflich, dass eine Mutter ihr eigenes Kind als Schutzschild gegen die Polizei benutzt."
Matthias Pöhlmann, Autor des 2021 veröffentlichten Buchs "Rechte Esoterik". Bild: Herder / Pöhlmann
Matthias Pöhlmann, Theologe und Autor, der sich seit Jahren mit Esoterik und Verschwörungsmythen beschäftigt, sieht in diesem Umgang mit Kindern eine Eskalation. Gegenüber watson meint er:
"Dass man Kinder zu Demos mitnimmt, ist grundsätzlich nichts Neues. Bei Demos im Corona-Protest-Milieu war das bisher die Ausnahme. Ich habe den Eindruck, dass das dort gerade zunehmend passiert. Und wenn Kinder als Schutzschilde genutzt werden, ist das eine neue Eskalationsstufe."
Pöhlmann stellt daneben eine weitere Entwicklung fest: Die Protestierenden organisierten zunehmend Veranstaltungen an unterschiedlichen, kleineren Orten – weil sie davon ausgingen, der Polizei damit größere Probleme zu bereiten. Pöhlmann sagt dazu:
"Was ich gerade beobachte: Es gibt im Vergleich zu den vergangenen Monaten mehr dezentrale Demos, gerade auch in kleinen Orten im ländlichen Raum. Am 28.12. bin ich allein auf 52 Orte in Bayern gestoßen. In Telegram-Gruppen im Corona-Protest-Milieu wird das ausdrücklich damit begründet, man wolle die Polizei behindern, sie lahmlegen und damit einen Umsturz vorbereiten. In diesen Gruppen wird unter anderem dafür geworben, schwarzes Farbspray zu verwenden, um die Visiere von Polizisten zu besprühen."
Die Radikalisierung der Corona-Protestbewegung ist ein weiterer Trend, den Pöhlmann unterstreicht – und den auch andere Expertinnen und Experten seit Monaten beobachten. Der baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte Michael Blume hatte etwa schon im November 2020 vor einer Radikalisierung gewarnt, inklusive einer erhöhten Terrorgefahr.
Der Münchner Pöhlmann sieht gerade in Bayern rechtsextreme Gruppen am Werk. Er meint zu watson: "Was auffällt: Rechtsextreme Gruppierungen wie die Kleinpartei 'Der III. Weg‘ sind dabei, marschieren zunehmend an der Spitze dieser Demos und beglückwünschen sich dann in Telegram-Gruppen dafür, dass sie das schaffen."
Wie es 2021 mit der Corona-Protestbewegung weitergehen könnte
Für das kommende Jahr sieht Pöhlmann zwei denkbare Entwicklungen. Er sagt:
"Zwei Szenarien sind möglich: Erstens, dass die Bewegung abebbt, wenn eine Impfpflicht eingeführt wird, wovon ich momentan ausgehe. Zweitens, dass sich Querdenker neue Themen suchen, in denen sie ihre Verschwörungsmythen bestätigt sehen – etwa die Klimaschutz-Maßnahmen der neuen Bundesregierung."
In jedem Fall, meint er, dürfte eine gewisse Anzahl radikalisierter Menschen weiter aktiv bleiben – von denen Gefahr ausgehen dürfte. Pöhlmann meint:
"Wir werden es in jedem Fall sicherlich weiter mit einem radikalem Kern der selbsternannten Besser- und Überwisser zu tun haben. Was mich besorgt ist, dass manche Querdenker Waffen haben. Man muss nur an die Tat von Idar-Oberstein denken, um zu verstehen, wie gefährlich das ist. Das ist vom Ausmaß her nicht vergleichbar mit dem Waffenbesitz unter Reichsbürgern, aber trotzdem besorgniserregend. Wenn radikalisierte Corona-Leugner Waffen haben und ihr Feindbild so überhandnimmt, dass Gewalt als legitimes Mittel gesehen wird, birgt das eine erhebliche Terrorgefahr."
Ein Fall, der derzeit Bundeswehr und bayerische Polizei beschäftigt, ist ein Drohvideo eines angeblichen Soldaten. "Derzeit kursiert ein Video eines angeblichen Soldaten im Netz, welches hier oft geteilt wird", twitterte das Verteidigungsministerium am Donnerstag. Es enthalte Drohungen gegen den Rechtsstaat, die nicht hinnehmbar seien. "Die Konsequenzen werden bereits geprüft."
In dem etwa eine Minute langen Clip verlangt der selbst bezeichnete Oberfeldwebel unter anderem die Rücknahme der staatlichen Corona-Maßnahmen und der Duldungspflicht, nach der die Covid-Schutzimpfung in der Bundeswehr zur Vorschrift wurde. "Dies ist eine Warnung", sagt er. "Bis morgen" werde eine Äußerung dazu verlangt. Im Begleittext zum Video heißt es: "Die Soldaten geben sich bis morgen 16:00 Uhr dialogbereit." Das Video wurde spätestens am frühen Donnerstagmorgen eine Stunde nach Mitternacht gepostet. Am Donnerstagabend wurde der Mann festgenommen, aber später wieder auf freien Fuß gesetzt.
Der FDP-Bundestagsabgeordnete Benjamin Strasser, seit Dezember Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, schrieb auf Twitter zu dem Video: "Eine Studie zu Extremismus in Sicherheitsbehörden ist überfällig. Wir gehen sie an."
Wie der Staat reagiert
Seit Beginn der Corona-Proteste im Frühjahr 2020 ist den Sicherheitsbehörden immer wieder vorgeworfen worden, schlecht vorbereitet auf Eskalationen bei den Demonstrationen zu sein. Etwa nach der bisher größten Demonstration im August 2020 in Berlin, an deren Ende eine Gruppe von Protestierenden auf die Treppe des Reichstagsgebäudes lief.
Autor Pöhlmann sieht in der Reaktion der Polizei auf die unangemeldete Corona-Demo am Mittwoch ein Beispiel für eine richtige Reaktion des Rechtsstaats. Er meint dazu:
"In München haben wir bei den Demos am Mittwochabend gesehen, dass die Polizei inzwischen konsequent handelt, wenn Protestierende Grenzen überschreiten. Das ist richtig. Das gehört zu einer wehrhaften Demokratie. Wer Sachbeschädigungen verübt und Polizisten verletzt, überschreitet eine Grenze. Jeder Mensch hat das Recht, zu demonstrieren – muss aber den gebotenen Abstand zu Gewalttätern halten, physisch wie geistig."
US-Wahl und die Spaltung der Gesellschaft: Was Deutschland daraus lernen sollte
Seit der US-Wahl steht fest: Donald Trump wird erneut ins Amt des US-Präsidenten zurückkehren. Spannend war das Rennen ums Weiße Haus allemal. Doch es war ein Wahlkampf, der von starker Polarisierung und emotionaler Abneigung zwischen den beiden politischen Lagern geprägt war. Er hat die gesellschaftlichen Gräben in den Vereinigten Staaten weiter vertieft.