Wer in Deutschland lebt, kommt nicht an dem wohl dunkelsten Kapitel der Geschichte des Landes vorbei. Kinder und Jugendliche lernen bereits in der Schule, was während des Nationalsozialismus passiert ist – und wie es dazu kommen konnte. Fast sechs Millionen Jüd:innen waren ermordet worden. Hunderttausende Roma und Sinti sowie beeinträchtigte und kranke Menschen sind der rassistischen Politik des NS-Regimes ebenfalls zum Opfer gefallen. Millionen Menschen waren vertrieben worden.
Rechtsextreme Strömungen in Deutschland nehmen wieder zu. Wie die jüngsten Recherchen des investigativen Mediums Correctiv zeigen, sind die Vorgänge durchaus gefährlich. Die Veröffentlichung brachte ans Licht, was derzeit die deutsche Politik erschüttert.
Nicht weit von der Wannseekonferenz-Villa in Potsdam trafen sich im November Neonazis und vermögende Unternehmer:innen. Auch dabei: auch AfD-Politiker. Sie berieten dort über Dinge, die Erinnerungen an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte wecken. Nun zieht ein Historiker Parallelen zum Nationalsozialismus.
Als der Historiker Markus Roth von dem Treffen erfahren hat, habe er zunächst nicht an die Parallelen zur NS-Zeit gedacht. Denn was in Potsdam geschehen ist, sei schon an sich "ungeheuerlich", wie er im Interview mit der "Zeit" verrät: "Eine rechtsextreme und rassistische Verschwörung, dazu ein Reporter, der sich eingeschlichen hat. Es klingt wie eine Netflix-Serie. Aber es ist die Realität."
Doch in der deutschen Öffentlichkeit wurden schnell Parallelen zur Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 gezogen. Damals hatten hochrangige nationalsozialistische Entscheider die begonnene Judenverfolgung im Detail besprochen und weiter geplant. Auf Parallelen zu dem historischen Treffen angesprochen, sieht Roth Ähnlichkeiten im Setting:
Auch das rassistische Verständnis von Staatsangehörigkeit und die "absolute Menschenfeindlichkeit, die damals herrschte" liege dem aktuellen Treffen zugrunde.
Dennoch sieht er einen klaren Unterschied. Denn während damals Entscheidungsträger aus Staat und Partei zusammensaßen und ihre Ideen auch in die Tat umsetzen konnten, war dies im November anders. Zwar waren auch hier Vertreter der AfD anwesend, die in fast allen deutschen Parlamenten vertreten ist und hohe Stimmanteile hat.
Auch AfD-Chef Tino Chrupalla soll an einem früheren Treffen dieser Runde teilgenommen haben. "Aber vor allem sitzen da Rechtsextreme, Neonazis und Spinner beisammen, die ihrer menschenverachtenden Fantasie freien Lauf lassen." Sie hätten allerdings noch keine Macht, das Besprochene umzusetzen.
Den Leiter der Identitären Bewegung, Martin Sellner, die in Deutschland als rechtsextrem eingestuft wird, wird nachgesagt, dass er bei dem Treffen von einem "Masterplan" gesprochen hat. Dieser Plan zielt laut Correctiv-Recherchen darauf ab, Millionen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte aus Deutschland zu vertreiben.
Das betreffe nicht nur Asylsuchende und Ausländer:innen mit dauerhaftem Bleiberecht, sondern auch deutsche Staatsbürger:innen, die aus seiner Perspektive nicht in Deutschland sein sollten. Laut dem Historiker bezieht sich Sellner damit auch auf das völkische Staatsangehörigkeitsverständnis der NS-Zeit.
Er sagt: "Grob bedeutet das, dass Staatsangehörige nur diejenigen sein können, die 'reine' deutsche Staatsangehörige sind, also 'reinrassiger Abstammung'."
Ein gefährliches Gedankengut. Denn die Teilnehmenden des Treffens stellen sich damit laut dem Historiker "in eine fatale Traditionslinie". "Nämlich die, die im Nationalsozialismus tödliche Konsequenzen für Millionen von Menschen hatte", warnt er.
Auch zum Vokabular bei dem Geheimtreffen gibt der Historiker seine Einschätzung ab. Dort wurde laut "Correctiv" etwa von einer "Remigration" für Vorgänge gesprochen, die auch als Massenvertreibung bezeichnet werden könnte. Zudem war von "maßgeschneiderten Gesetzen" die Rede. Hierzu warnt Roth in der "Zeit":
Auch das erinnert ihn an die Methode der Nazis. "Sonderbehandlung" meinte damals eigentlich Ermordung. "Endlösung" bedeutete Holocaust. Solche Begriffe setzen sich bereits in der breiten Gesellschaft fest, etwa in den Debatten um Migration. Dabei werde bereits zum Teil von "Rückführung" statt von Abschiebung gesprochen.
Überraschend waren für Roth die Enthüllungen über ein derartiges Treffen nicht. Dass die Identitäre Bewegung und die AfD eine massive Gefahr für Menschen mit Migrationshintergrund und für die Demokratie sind, sei schon lange bekannt. Die Denkmuster der Akteure aufzuzeigen, sei aber wichtig. Unabhängig davon, ob es nun sinnvoll sei, historische Vergleiche zu ziehen. Dazu sagt Markus Roth:
Er hoffe in Hinblick auf die Politik der erstarkenden AfD in Deutschland, dass die Empörung über die Enthüllungen nachhaltig sei und nicht so schnell verfliege wie in der Vergangenheit. Denn: "Es mögen Spinner sein, die da sitzen, aber harmlos sind sie nicht."