Montagmittag vor der Chemnitzer Festivalbühne, eine kleine Gruppe Menschen sitzt schon auf dem großen Parkplatz, "Schrei nach Liebe" von den Ärzten dröhnt aus einer winzigen Lautsprecherbox. Alle singen mit. Alle.
Nach den rechtsextremen Aufmärschen, nach der Gewalt der vergangenen Tage gegen Demonstranten, gegen Polizisten, gegen Journalisten, gibt es in Chemnitz neue Bilder. Endlich. Zehntausende kommen zusammen an diesem Nachmittag, manche haben Plakate dabei, viele sind bunt gekleidet, alle wollen an diesem Nachmittag ein Zeichen setzen gegen rechts.
Wir sind mehr, hatten Die Toten Hosen, Feine Sahne Fischfilet, Kraftklub, K.I.Z., Marteria & Casper, Nura und Trettmann gesagt und spontan ein kostenloses Konzert auf die Beine gestellt. Gegen Rechtsextremismus und Gewalt. Wir sind mehr!
Das Konzert:
Video: watson/Felix Huesmann, Marius Notter, Lia Haubner
Und sie waren wirklich mehr.
Selbst als das Konzert längst läuft,
strömen aus allen Richtungen weiter Leute hinzu. 65.000 Menschen
sind es insgesamt, schätzt die Stadt Chemnitz. Tote-Hosen-Sänger Campino
spricht sogar von 70.000. Sie sind zum Teil aus ganz Deutschland und
aus Nachbarländern angereist. Und sie sind rund zehnmal so viele, wie bei der
rechtsextremen Demo eine Woche zuvor.
Johanna Menzel und Lena
Höhn sind aus Marburg nach Chemnitz gefahren, "weil man den Hass stoppen muss",
wie Johanna sagt.
Lena (l.) und Johanna (r.)felix huesmann
Johanna sagt:
"Ich will den Hitlergruß nicht auf deutschen Straßen sehen."
Als sie ein Video von Hitlergrüßen
am vergangenen Montag gesehen habe, habe sie fast heulen müssen. Angst hätten
sie trotzdem nicht gehabt, nach Chemnitz zu fahren, aber "Respekt vor der Situation",
sagt Lena. "Man kann ja nicht alle Chemnitzer über einen Hut scheren."
"Ich bin hier um zu
zeigen, dass es auch eine Gegenbewegung in Chemnitz gibt", sagt Justin Tredup.
Der 17-Jährige lebt in Chemnitz und war schon eine Woche zuvor auf der Straße.
Als es zu Ausschreitungen kam und Hitlergrüße gezeigt wurden, da stand Justin
auf der Gegendemo. Es sei nicht nur erschreckend, wie viele Rechte dort demonstriert
hätten, sondern auch, wie viele "Bürger aus der Mitte" mit darunter gewesen
seien.
Felix Huesmann
Und doch war das Ausmaß für ihn nicht völlig überraschend:
"Überrascht ist vielleicht der falsche Ausdruck. Man wird auf den Boden der Realität zurückgeholt. Man weiß zwar, dass es die Gruppierungen gibt und man weiß auch, dass es nicht wenige sind. Aber wenn man die Masse vor sich sieht, dann merkt man erst, wie viele das wirklich sind. Und man merkt auch, dass man etwas für die Zukunft machen muss, um zu verhindern, dass es so weitergeht."
Rund um das Konzert
bleibt es am Montag friedlich. Die Stimmung ist ausgelassen, es geht hin und her zwischen dem energischen
Rufen antifaschistischer Parolen und dem ausgelassenen Tanzen und Mitsingen zur
Musik von der Bühne.
Feine-Sahne-Fischfilet-Sänger
Jan "Monchi" Gorkow richtet sich mit einer eindeutigen Botschaft ans Publikum:
Jan "Monchi" GorkowBild: imago stock&people
"Jedes verfickte Arschloch, wer meint, ein Messer ziehen zu müssen in irgendwelchen Streitigkeiten, ist ein verficktes Arschloch. Scheißegal, wo es herkommt."
K.I.Z.-Rapper Maxim holt
zu einer Generalkritik aus und ruft den Zuschauern zu:
"Ich habe etwas Angst, dass es ausartet, dass wir uns so fühlen, als wären wir die besseren Deutschen. Als würde das, was vor einiger Zeit passiert ist, nicht auch zu Deutschland gehören. Als würde an diesem Land kein Blut kleben."
Und zum Abschluss covern
dann sogar die Toten Hosen das Ärzte-Lied "Schrei nach Liebe".
Bild: Reuters
Später am Abend kommt es dann doch noch zu unschönen Szenen in der Chemnitzer Innenstadt:
Wie geht es jetzt weiter?
Die Menschen, die am Montag angereist sind, um Musik zu hören, zu demonstrieren und
ein Zeichen zu setzen – sie alle sind am Dienstag wieder weg. Ein paar Wochen später
werden auch viele der zahlreichen antirassistischen Aufkleber abgeknibbelt
sein, die sie in der Stadt hinterlassen haben. Und in ein paar Monaten könnten
die Geschehnisse in Chemnitz nicht viel mehr sein als eine Randnotiz. Ein
weiterer Eintrag in der langen Liste rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Deutschland. Rostock-Lichtenhagen – Hoyerswerda. Freital – Heidenau – Chemnitz. Auch solche Gedanken beschäftigen die Menschen hier.
Johanna aus Marburg sagt:
"Wenn es nötig ist, setze ich mich nächste Woche wieder ins Auto, werde wieder hierherkommen, und dann nochmal demonstrieren.“
Andere sind
resignierter.
Drei kurdische Männer, die am Montagnachmittag durch die Stadt
spazieren, haben die Hoffnung auf eine positive Veränderung längst aufgegeben. "Das
ist Ostdeutschland, was willst du noch anderes erwarten?" sagt der eine. Er wohnt
seit 11 Jahren in Chemnitz, sein Freund bereits seit 18. Der berichtet:
"Schon 2003 wurde ich mit vier Freunden von Nazis gejagt und verprügelt. Zwei haben sie krankenhausreif geschlagen."
Ihre Namen wollen sie nicht nennen, aus Angst
vor Rechtsextremen, auch aus Angst vor den eigenen Nachbarn. Alle drei
berichten von Rassismus im Alltag – und davon, wie sehr sie sich daran längst gewöhnt
hätten. An ihren Erlebnissen und an ihrem Blick auf die eigene Stadt, wird auch
ein großes Konzert nichts ändern.
Wie also weiter in Chemnitz, in Sachsen?
Mit Bengalos gegen RechtsBild: Reuters
Viele Demonstranten fordern ein Umdenken in der
sächsischen Politik. Zu lange seien Rechtsextreme nicht energisch genug
bekämpft worden. Ob es dazu kommt? Bei der kommenden Landtagswahl könnte der
sächsischen Landespolitik erstmal ein neuer Rechtsruck bevorstehen. Würde jetzt
gewählt, würde die AfD Umfragen zufolge mit 25 Prozent zweitstärkste Kraft.
Eben die AfD, die am vergangenen Samstag gemeinsam mit bekennenden Neonazis in
Chemnitz demonstriert hat.
Diejenigen, die bereits
am Montag zuvor gegen rechtsextreme Gewalt auf die Straße gegangen sind, werden
das in vielen Fällen trotzdem auch künftig wieder tun. Das Konzert am Montag
sollte auch dazu beitragen, ihnen Mut zu machen und zu zeigen: Ihr seid nicht
allein. Während des Konzertes wendet sich auch Kraftklub-Sänger Felix Brummer
mit diesem Gedanken an das Publikum:
"Es ist uns vollkommen klar, dass man mit einem Popkonzert am Montag nicht die Welt rettet. Aber wir haben auch schon vor zwei Wochen in Chemnitz gewohnt und wohnen auch noch in Chemnitz, wenn die Kameras wieder weg sind. Und manchmal ist es wichtig, dass man sich nicht allein und nicht allein gelassen fühlt."
Die Bilder des Konzerts:
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#wirsindmehr – die Bilder des Konzerts
65.000 Menschen kamen nach Chemnitz
Und die vielen Tausenden
Menschen, die das Konzert besucht, oder sich eine der Liveübertragungen
angeschaut haben, wissen spätestens jetzt: In Chemnitz gibt es nicht nur
Rechtsextreme, sondern auch Menschen, die sich ihnen in den Weg stellen – und dabei
jede Unterstützung dringend benötigen.
Ein Triumph der
Demokratie ist #WirSindMehr deshalb noch nicht – aber vielleicht ein Grundstein
für mehr.
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