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"Wir sind hier, wir sind queer" – so war der Tuntenspaziergang in Berlin

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Bild: Felix Huesmann/watson
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"Wir sind hier, wir sind queer" – so war der Tuntenspaziergang in Berlin

27.05.2018, 10:2128.05.2018, 08:18
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Berlin hatte längst einen schwulen Regierenden Bürgermeister, seit dem vergangenen Jahr dürfen gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland endlich heiraten. Man könnte meinen, unsere Gesellschaft sei weit gekommen. Trotzdem gibt es nicht nur auf den Straßen der Hauptstadt immer wieder homophobe und transfeindliche Gewalttaten. 

Im Berliner Stadtteil Neukölln sind am Samstag mehrere hundert Menschen auf die Straße gegangen, um zu zeigen: Wir lassen uns das nicht gefallen. Kaey Kiel, die die Demonstration mitorganisiert hat, erklärt:

"Beim Tuntenspaziergang geht es darum, mehr Sichtbarkeit für queere Menschen in der Stadt zu schaffen. Dass wir nicht immer nur eine besondere Spezies sind, die zum CSD auftaucht, sondern tatsächlich auch hier leben und unterwegs sind."
Kaey Kiel

Die 38-Jährige ist Redakteurin des queeren Berliner Stadtmagazins "Siegessäule" und außerdem Sängerin, Performerin und Aktivistin.

Kaey Kiel.
Kaey Kiel.Bild: Felix Huesmann/watson

Der Tuntenspaziergang ist nicht nur eine Reaktion auf homophobe und transphobe Angriffe der vergangenen Jahre. "Die Idee dahinter ist schon recht alt", erklärt Kaey. "Gerade in Berlin gab es in den 80er und 90er Jahren viele politisch aktive Tunten. Die sind in Gruppen zusammen Kaffee trinken oder shoppen gegangen. Das ist eine Tradition, die ich gerne wieder aufleben lassen wollte."

Was hat es mit dem Wort Tunte auf sich?
Kaey Kiel erklärt: „Mit dem Begriff Tunte ist es ähnlich wie mit dem Begriff
schwul. Beide Worte waren früher Schimpfworte. Die Community hat sich die zu eigen gemacht
und sich damit von der Tatsache, dass es ein Schimpfwort ist, emanzipiert. Wenn ich selbstbewusst sagen kann: Ich bin schwul, ich bin eine Tunte, oder ich bin eine Transfrau, ich bin eine Transe, dann hat man dem Gegenüber die Macht genommen, einen zu beleidigen.“

Warum eine Demo?

Dass aus dem Spaziergang auf einmal eine Demo geworden ist, liegt an dem großen Interesse an der Aktion. Es wollten so viele kommen, dass Kaey und ihre Mitstreiter ganz offiziell eine Versammlung angemeldet haben, mit Polizeibegleitung, festgelegter Route und allem drum und dran. "Heißt das, dass wir nicht bei Karstadt shoppen gehen können?", fragt eine Teilnehmerin, als das Konzept nochmal durch ein Megaphon erläutert wird. Dieser Shopping-Trip fällt tatsächlich aus.

Dafür geht es am Samstagabend mit Blasmusik-Begleitung der "Transphonix" durch Neukölln. "Wir sind hier, wir sind queer" rufen die Spaziergänger immer wieder.

Und:

"We are here, we are queer, we're fabulous, don't mess with us!"

Der Tuntenspaziergang ist auch eine selbstbewusste Kampfansage.

So schön war der Tuntenspaziergang

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So schön war der Tuntenspaziergang
quelle: felix huesmann/watson / felix huesmann/watson
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Abschätzige Blicke

Gerade auf der Sonnenallee, wo sich Falafel-Restaurants und arabische Cafés aneinanderreihen, ernten die Spaziergänger viele Blicke. Verdutzte. Erstaunte. Interessierte. Aber auch viele abschätzige. Es wird getuschelt. Zumindest wird nicht gepöbelt.

Leicht erhöht auf einem Blumenbeet steht eine Gruppe junger Männer am Gehweg. Einer von ihnen gestikuliert immer wieder in Richtung Straße, ruft jemandem zu: "Ey ich liebe dich, wollen wir um die Ecke gehen?" Ernst gemeint oder nett klingt das nicht. Mehrere der Hundertschafts-Polizisten, die den Tuntenspaziergang begleiten, stellen sich zwischen ihn und die Demo. 

Als er kurz später darauf angesprochen wird, was er von der Demo hält, sagt er dann aber: "Ich habe da überhaupt kein Problem mit. Wir leben doch in einer Demokratie, die können meinetwegen auch nackt rumlaufen. Alles schick!" Wie ernst er das meint, bleibt sein Geheimnis.

Der Tuntenspaziergang im Video:

Video: watson/Felix Huesmann, Lia Haubner

Gewalt ist Alltag

In Neukölln kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Angriffen auf schwule Männer und Transfrauen. Erst am vergangenen Donnerstag wurden in dem Stadtteil zwei Männer aus einer Dreiergruppe heraus homophob beleidigt und anschließend mit kleinen Pflastersteinen beworfen. Die Polizei konnte kurz später einen Tatverdächtigen fassen – einen 18-jährigen Libanesen. Solche Angriffe seien zuletzt meist von jungen Männern mit Migrationshintergrund oder von deutschen Rechtsradikalen ausgegangen, berichtet der Berliner "Tagesspiegel". 

Im März verletzten zwei Jugendliche einen 24-jährigen mit Schlägen auf den Kopf und einem Messerstich in den Oberschenkel. Zuvor hatten die Angreifer den Mann und seinen Lebensgefährten nach Zigaretten gefragt. (Polizei Berlin)

Homophobie ist in der gesamten Gesellschaft verbreitet:

Nach solchen Angriffen ermittelt häufig der polizeiliche Staatsschutz, der für politische Delikte zuständig ist. Opfer LGBT-feindlicher Straftaten haben in Berlin sogar eine eigene Ansprechpartnerin beim Landeskriminalamt. Auch die Berliner Staatsanwaltschaft hat eine eigene Abteilung, die homo- und transphobe Gewalt und Hasskriminalität verfolgt. 

Auch für Kaey gehört die Sorge vor Gewalt zum alltäglichen Leben. Sie sagt:

„Wenn ich so losgehe, wie heute, dann hab‘ ich schon immer Herzklopfen, weil ich mich darauf einstellen muss, dass irgendwas passiert. Man wird ausgelacht, man wird beschimpft, man wird angespuckt. Ich wurde auch schon körperlich bedroht. Für mich als Transfrau ist das ein besonderes Thema, weil mir das im Alltag zu jeder Stunde, in jeder Sekunde passieren kann, selbst wenn ich nicht aufgedonnert rausgehe."
Kaey Kiel

Das sei jedoch kein besonderes Neuköllner Phänomen, sagt Kaey. "Ich finde die Idee, dass es Problembezirke gibt, ziemlich absurd. Wenn man queer ist, kann man überall Probleme kriegen." 

"Das Problem sind Männer und es ist egal, woher die kommen."
kaey kiel
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Bild: Felix Huesmann/watson

Selfies mit der "Miss*ter CSD"

Der Tuntenspaziergang erreicht schließlich den Hermannplatz, eines der Zentren Neuköllns.

Auch hier ziehen die ganzen bunt gekleideten und gut gelaunten Menschen viele Blicke an. Einige skeptische Blicke, aber auch neugierig-interessierte. Am Rand des Platzes sitzt eine arabisch sprechende Familie. Eine junge Frau und ein junger Mann tuscheln sich zu. Drei Mädchen staunen zuerst vor allem. So viele queere Menschen auf einem Fleck haben sie anscheinend noch nicht gesehen. Es dauert aber nur ein paar Minuten, bis sie sich vom Rand in die Menschenmenge trauen. Und dann keine weitere Minute, bis sie sich mit strahlenden Gesichtern mit der "Miss*ter CSD" fotografieren lassen. Jetzt ist das Eis gebrochen. Auf dieses eine erste Foto folgen viele weitere Fotos mit "Tunten" und Transfrauen. 

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Bild: Felix Huesmann/watson

Bevor die Demonstration beendet wird, tritt schließlich noch eine Frau ans Megaphon, die sich dem Tuntenspaziergang erst kurz zuvor angeschlossen hat. Sie will den versammelten Menschen noch etwas mitteilen. "Ich habe gerade in einem Café gesessen" sagt sie auf Englisch, "und mir ging es nicht gut. Dann habe ich euch gehört und all die Regenbogenfahnen gesehen. Das war so schön. Ich möchte mich so sehr bei euch bedanken."

Wenn es nach Kaey Kiel geht, war das nicht der letzte Tuntenspaziergang in Berlin. "Wir sollten sowas jeden Monat in einem anderen Stadtteil machen", ruft sie in ein Megaphon. "Und vielleicht fliegen wir ja auch alle mal nach London oder New York."

US-Wahl und die Spaltung der Gesellschaft: Was Deutschland daraus lernen sollte

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