Der Entwurf für die Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht in Deutschland ist im Bundestag gescheitert. Den Vorschlag für eine Pflicht zunächst ab 60 Jahren lehnten am Donnerstag 378 Abgeordnete ab, dafür votierten 296 Abgeordnete und neun enthielten sich. Für eine allgemeine Impfpflicht als Vorsorge für den Herbst hatte sich auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) ausgesprochen. Wegen offenkundiger Meinungsverschiedenheiten hatte die Ampel-Koalition dazu aber keinen Regierungsentwurf eingebracht. Abgestimmt wurde daher weitgehend ohne die sonst üblichen Fraktionsvorgaben.
Um eine Mehrheit zu erreichen, hatten Abgeordnete aus SPD, FDP und Grünen noch einen Kompromiss-Entwurf vorgelegt. Dafür weichten die Befürworter einer Impfpflicht ab 18 Jahren ihren Vorschlag auf und einigten sich mit einer Abgeordnetengruppe, die für eine mögliche Impfpflicht ab 50 eintrat, auf eine gemeinsame Initiative. Dieser Vorschlag wurde als einziger ausgearbeiteter Gesetzentwurf zur Abstimmung gestellt, verfehlte aber eine Mehrheit.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zeigte sich besorgt über das Ergebnis. Der SPD-Politiker schrieb auf Twitter: "Es ist eine sehr wichtige Entscheidung, denn jetzt wird die Bekämpfung von Corona im Herbst viel schwerer werden. Es helfen keine politischen Schuldzuweisungen. Wir machen weiter."
Nach der Abstimmung über den Impfpflicht-Kompromiss scheiterte die Union mit ihrem eigenen Antrag für die Einführung eines Impfregisters. Auch der Antrag einer Parlamentariergruppe um FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, der sich gegen die Impfpflicht aussprach, scheiterte deutlich.
Ebenso wenig eine Mehrheit fand ein Antrag der AfD-Fraktion, der nicht nur eine allgemeine Impfpflicht verhindern, sondern auch die bereits geltende Pflicht für Mitarbeitende in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen wieder abschaffen wollte.
Im Vorfeld der Entscheidung hatten die Abgeordneten teils emotional über das Für und Wider einer Impfpflicht debattiert.
SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt warb für die Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht zunächst für Menschen ab 60 Jahren als Vorsorge für den Herbst. Ziel sei, das Gesundheitssystem, die kritische Infrastruktur und die Gesundheit der Menschen zu schützen, sagte die Mitinitiatorin eines entsprechenden Gesetzentwurfs am Donnerstag im Bundestag.
Entweder sei die Impflücke dann weitgehend geschlossen und es gebe eine höhere Grundimmunität, oder es müssten wieder Maßnahmen bis hin zu Schließungen ergriffen werden. "Das Virus wird nicht einfach verschwinden." Auch angesichts der Folgen des Ukraine-Krieges mahnte Schmidt: "Wir haben heute die Chance, im Herbst nicht auch noch mit den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zurechtkommen zu müssen."
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) forderte in seiner Rede am Donnerstag die Union auf, ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht zu werden.
Durch die Impfpflicht ab 60 "verhindern wir 90 Prozent der Todesfälle, die durch eine Impfpflicht ab 18 vermeidbar wären", warb Lauterbach am Donnerstag für die Zustimmung zu dem entsprechenden Antrag aus den Koalitionsfraktionen. "Stehen Sie zu Ihrer Verantwortung", sagte Lauterbach an die Unionsabgeordneten gewandt.
Auch derzeit gebe es trotz der milderen Omikron-Variante 200 bis 300 Todesfälle von Corona-Infizierten pro Tag, sagte Lauterbach. "Wollen wir uns daran gewöhnen?", fragte er an CDU und CSU gewandt. Hätte sich bisher niemand impfen lassen, "hätten wir hier eine lupenreine Katastrophe und wären im völligen Lockdown", gab der Minister zu bedenken. "Heute ist der Tag der Entscheidung."
Tino Sorge, der gesundheitspolitische Sprecher der Union, verglich die Entscheidung für oder gegen die Impfpflicht mit der Entscheidung für die Ehe. Er warb für den Impfmechanismus der Union. "Ich finde es gut, dass sie auch das Impfregister einführen wollen", sagte er zu den Parlamentariern, die den Vorschlag für die Impfpflicht ab 60 unterstützen. Er warf der Gruppe vor, eine Impfpflicht ab 18 durch die Hintertür einführen zu wollen.
Der Kompromissvorschlag schien Sorge genauso wenig zu überzeugen wie viele seiner Fraktion. Auf eine Frage aus der Grünen-Fraktion, wie die Union auf eine neue Welle im Herbst reagieren wolle, sagt Sorge: "Wenn im Herbst möglicherweise eine Welle auf uns zukommt, ist es doch umso wichtiger, jetzt den Vorsorgemechanismus anzustoßen." Wie dieser Mechanismus helfen soll, die Ungeimpften im Herbst schnellstmöglich durchzuimpfen, während die Zahlen bereits steigen, lässt er allerdings offen. Stattdessen ätzt er gegen den Kanzler und den Gesundheitsminister: "Ja, impfen schützt, aber eine pauschale Impfpflicht hilft nicht gegen Überlastungen, die wir aktuell nicht haben."
Er wirft der Ampel vor, nicht kompromissbereit zu sein. Denn aus seiner Sicht, ist der Impfmechanismus der einzige Kompromiss, der auf dem Tisch liege.
"Es handelt sich hier jedenfalls nach Überzeugung der Mehrheit unserer Bundestagsfraktion nicht um eine Gewissensentscheidung", sagte Merz in Richtung Ampelkoalition. Befürworter der Impfpflicht aus der Ampel warfen der Union vor, die Impfpflicht aus parteitaktischen Gründen zu verhindern.
Merz hielt dem entgegen: "Es kann sein, dass es sich bei einzelnen Abgeordneten um eine Gewissensentscheidung handelt - aber dann legt das weder der Bundeskanzler noch irgendein anderer Redner hier im Deutschen Bundestag fest." Dies tue jeder selbst. Für die Union gelte: "Bis auf sehr wenige Ausnahmen sind wir in unserer Bundestagsfraktion einer Meinung, was dieses Thema Impfpflicht betrifft." Deshalb gebe es "von uns (.) einen gemeinsamen Antrag". Den Impfpflicht-Befürwortern warf Merz Manipulation bei den Abstimmungen der Anträge im Bundestag vor.
"Die Impfpflicht ist eine totalitäre Anmaßung, eine Herabwürdigung des Individuums", sagte Alice Weidel (AfD) mit fester Stimme. Wie andere ihrer Partei reißt sie die Vorschläge der Impfpflicht aus dem Zusammenhang. Behauptet, es sei nicht geregelt, wie viele Impfungen es geben wird. Dabei hatte beispielsweise Dagmar Schmidt (SPD) bereits klargestellt, dass der Vorschlag für die Pflicht ab 60 Jahren exakt drei Impfungen umfasse.
Die Regierung handele verfassungsfeindlich, wenn sie sich anmaße, das Recht auf körperliche Unversehrtheit "nach Belieben umzubiegen", sagte Weidel. "Wer gibt dem Staat das Recht, uns zu unserem angeblichen Glück zu zwingen? "Es gehe den Befürworter einer Impfpflicht einzig um die "Lust an der uneingeschränkten Verfügungsgewalt". Schon der Lockdown sei falsch gewesen. "Nach unserer Freiheit ist jetzt unser Körper an der Reihe", sagte Weidel. Der einzig nachvollziehbare Grund für eine Impfpflicht sei, dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf Millionen Impfdosen sitzenbleibe. Das aber seien "die Probleme eines überforderten Gesundheitsministers".
Wolfgang Kubicki (FDP) hatte mit anderen Abgeordneten einen Antrag zur Erhöhung der Impfbereitschaft ohne allgemeine Impfpflicht vorgelegt und zählte am Donnerstag Argumente auf. So werde durch Impfung keine Herdenimmunität erreicht, und eine Überlastung des Gesundheitswesens werde es voraussichtlich nicht geben. Es sei nicht die Aufgabe des Staates, erwachsene Menschen gegen ihren Willen zum Selbstschutz zu verpflichten. Die mildere Omikron-Variante des Corona-Virus zwinge zudem zum Umdenken. "Deshalb ist eine allgemeine Impfpflicht, ob ab 18 oder 60, weder rechtlich noch gesellschaftspolitisch zu rechtfertigen."
Man wolle Vorsorge treffen, keinen dritten Corona-Winter erleben und das Gesundheitssystem vor Überlastungen schützen, sagte Andrew Ullmann (FDP). Auch die CDU/CSU-Abgeordneten rief er zur Zustimmung auf: "Reißen Sie die Mauer des Parteienstolzes ein. "Eine Vorhersage, wie eine nächste Corona-Welle im Winter aussehen werde, könne nicht seriös getroffen werden, sagte Ullmann." Wir wissen, die Welle kommt. Aber die Qualität dieser Welle kennen wir wirklich nicht. Das ist ähnlich wie bei einer Wettervorhersage." Nichts zu tun wäre nach dem aktuellen Stand der Dinge möglich, "aber ein Pokerspiel". Vielmehr müssten Impflücken geschlossen werden.
"Die Prävention mit der Impfpflicht bringt uns raus aus dieser Pandemie", sagte Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen. Eine Impfpflicht ab 60 sei wirksam, rechtssicher und vernünftig. Sie schütze zum einen die besonders gefährdeten Menschen, das Gesundheitssystem vor einer Überlastung und Deutschland vor einem weiteren Pandemie-Herbst und -Winter. Die beste Krisenpolitik sei Krisenprävention, sagte Dahmen.
Er warf außerdem der Union Parteitaktik vor. "Dieses Virus der Parteitaktik tötet das Vertrauen in demokratische Institutionen", sagte Dahmen. "Demokratie besteht nicht daraus, dass man einen wirkungslosen, halbherzigen Antrag in den Raum wirft, dann die Tür verschließt und nicht mehr ans Telefon geht." Sondern Demokratie bestehe daraus, einen Gesetzesentwurf vorzulegen, in Verhandlungen zu gehen und Kompromisse zu schließen. "Wir haben die Verantwortung, jetzt Vorsorge für den Herbst zu tragen."
Wie gut die Impfung gegen künftige Virusmutationen schützen werde, sei nicht bekannt, argumentierte Sahra Wagenknecht. "Und trotzdem halten Sie unbeirrt daran fest, den Menschen eine Impfpflicht aufzuzwingen - weil der Kanzler Durchsetzungsfähigkeit demonstrieren muss?", fragte Wagenknecht. Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wolle anscheinend Handlungsfähigkeit beweisen und sein Gesicht wahren. "Die deutschen Geisterfahrer gegen den Rest der Welt, wo kein Mensch mehr über Impfpflichten nachdenkt und diskutiert, das kann doch nicht Ihr Ernst sein", sagte Wagenknecht. "Hören Sie auf, die Menschen zu bevormunden. Die Corona-Impfung muss eine persönliche Entscheidung bleiben."
(rs/and/fas mit Material von dpa und afp)