2023 ist das Jahr der Rekorde, nicht nur, wenn es um die Temperatur geht. Auch die AfD profitiert offensichtlich von den Krisen, in denen Deutschland steckt – und deren Management. Bereits im Sommer konnte sich die selbsternannte Alternative über ein erstes politisches Amt freuen: den Landratsposten im thüringischen Sonneberg. In der sächsischen Stadt Pirna hat mit Tim Lochner nun ein AfD-Mann bei der Wahl zum Oberbürgermeister gewonnen.
Und das in einem Bundesland, in dem der AfD-Landesverband seit kurzem vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Viele zeigen sich von dem Ergebnis erschreckt. Eine andere rechtsextreme Gruppierung im Freistaat wittert nun allerdings Morgenluft für die Kommunalwahlen 2024 – und auch die AfD hat große Pläne für das Wahljahr.
"Wir wollen hier in Sachsen gewinnen, wir wollen deutlich gewinnen, wir wollen an die 40 Prozent rankommen. Das ist eine Steilvorlage für unsere Partei für das nächste Jahr", sagt der sächsische AfD-Chef Jörg Urban der Nachrichtenagentur dpa nach dem Wahlsieg in Pirna. Die AfD habe gezeigt, "dass es geht", dass sie mit einem deutlichen Vorsprung auch gegen die CDU und die Freien Wähler gewinnen könne.
CDU und Freie Wähler hatten sich im Vorfeld der Wahl offensichtlich nicht auf eine:n gemeinsame:n Kandidat:in einigen können, wie es in anderen Konstellationen dieser Art bislang häufig gehandhabt wurde. Stattdessen traten gegen den parteilosen Lochner, der sich der AfD verpflichtete, Kathrin Dollinger-Knuth für die CDU (31,4 Prozent) und Ralf Thiele für die Freien Wähler (30,1 Prozent) an. Die Empörung nach dem AfD-Wahlsieg ist entsprechend heftig.
So schreibt etwa Grünen-Politiker Sven Lehmann auf X, früher Twitter: "In Pirna konnte der rechtsextreme Kandidat nur gewinnen, weil die demokratischen Parteien sich nicht auf eine Gegenkandidatur verständigen konnten." Pirna werde zum "Fingerzeig" für das Wahljahr 2024: "Wer den Rechtsruck stoppen will, muss Eitelkeiten hintenan stellen", meint Lehmann.
Ähnlich bewerten wohl auch die Freien Sachsen die Situation. Die rechtsextreme Partei hat sich 2021 im Zusammenhang mit der Coronaprotestwelle gegründet. Sie lehnen das deutsche Grundgesetz ab und in ihrer Mitte tummeln sich vornehmlich Verschwörungstheoretiker:innen, Neonazis, Querdenker:innen und Rechtsextreme. Offiziell ist die Partei selbst der AfD zu rechts. Seit 2022 gibt es einen Unvereinbarkeitsbeschluss der Partei, der eine Zusammenarbeit mit den Freien Sachsen ausschließt.
In der Realität sieht sie Sache anders aus. Denn trotz der "Unvereinbarkeit" kommt es auf Demos und Veranstaltungen immer wieder zu Schulterschlüssen der beiden Rechtsaußen-Parteien.
In ihrem Telegram-Channel stellen die Extremisten nun klar: Sie wollen im Sachsen-Wahljahr 2024 auch erfolgreich sein. Inspiriert vom AfD-Wahlerfolg in Pirna.
So ruft die Partei ihre Community auf ihrem Telegramchannel dazu auf, in die sächsischen Rathäuser zu strömen. "Der Erfolg gestern in Pirna hat gezeigt, dass auf der kommunalen Ebene schon jetzt patriotische Erfolge möglich sind", heißt es in der Nachricht. Im kommenden Jahr, in dem neben der Landtagswahl auch zahlreiche Kommunalwahlen in Sachsen anstehen, gehe es nun darum, "das patriotische Lager weit aufzustellen".
Bislang können die Freien Sachsen als neue Bewegung wohl allerdings nicht ohne weiteres antreten. Für neue Parteien braucht es nämlich ausreichend Unterstützungsunterschriften. Und die Freien Wähler haben wohl Sorge, nicht genügend Unterschriften zusammenzubekommen. Daher erklären sie den Vorgang sehr genau auf Telegram. Und damit nicht genug, die Partei fordert ihre Community sogar dazu auf, Bescheid zu geben, wenn eine Unterschrift abgegeben wurde. Die Sorge: Wahlmanipulation.
Womöglich ein Vorgeschmack, wie das Wahljahr 2024 in Sachsen ablaufen könnte: Auf dem Wahlzettel vermutlich gleich mehrere rechtsextreme Parteien und dazu der Vorwurf, die diffuse Angst, die Wahlen könnten manipuliert werden. Eine Erzählung, die gerade in aufgeladenen Zeiten, wie diesen verfangen könnte.
Zwei Drittel der befragten Menschen in Ostdeutschland sehnen sich laut einer Studie der Uni Leipzig nach einem autoritären Staat, die Mehrheit der Ostdeutschen hätte demnach ein Demokratieproblem. Aktuelle Umfragen legen außerdem nahe, dass die AfD in Sachsen genauso beliebt ist, wie die CDU (beide 33 Prozent).
Die Amadeo-Antonio-Stiftung macht auf ihrer Plattform "Belltower.News" darauf aufmerksam, dass 2023 zwei Drittel der bundesweiten rechtsextremen Demonstrationen in Sachsen stattfanden. Sachsen sei das "Musterland des vielfältigen Rechtsextremismus". Die Freien Sachsen seien mittlerweile die bedeutendste Neonazi-Partei Sachsens, heißt es in dem "Belltower.News"-Interview.
Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen sagt über die Partei:
"Es ist 5 nach 12 im Kampf um unsere Demokratie", schreibt die Linkenpolitikerin Gökay Akbulut mit Blick auf die Pirna-Wahl auf X. Es brauche endlich eine gemeinsame, aktive Bemühung aller demokratischen Parteien, um die AfD zu bekämpfen. "Und das heißt ausdrücklich nicht, die Narrative der Rechtsextremen zu übernehmen und sie so salonfähig zu machen. Auch über ein Verbot der #noAfD muss ernsthaft nachgedacht werden", fährt sie fort. Angefügt hat Akbulut daran ein Zitat von Erich Kästner mit Bezug auf den Aufstieg der Nazis in den 1920er-Jahren.
Der Leipziger Stadtrat Jürgen Kasek (Grüne) wiederum macht auf X deutlich:
Der Journalist Frank Nordhausen merkt auf X an, dass ein Verbotsverfahren, wie es viele mittlerweile gegen die AfD fordern, womöglich die "letzte Chance ist, die faschistische AfD zu stoppen." Denn: "Die Europa- und Ostwahlen 2024 könnten sie zur stärksten Partei in DE machen. Und dann?", fragt Nordhausen.
Aus Sicht der Soziologin und Hochschullehrerin Nina Weimann-Sandig von der Evangelischen Hochschule Dresden müsse es nun darum gehen, Bündnisse gegen die AfD zu schmieden, statt dass sich Demokrat:innen in "individuellen Befindlichkeiten" verlieren. "Wie lange will man sich das noch anschauen? In Sachsen ist die AfD gesichert rechtsextrem. Nächstes Jahr ist Landtagswahl …", macht sie deutlich.