Während Marta in die Kamera spricht, schreit ein Baby. Und niemanden interessiert es.
Es schreit so laut, dass es an diesem kalten Dezemberabend alle auf dem Platz vor dem polnischen Parlament, dem Sejm in Warschau, hören. Dort, wo Hunderte gegen mögliche Verschärfungen des Abtreibungsgesetzes demonstrieren, laufe ich mehrmals hin und her. Ich versuche, im blauen Licht der Polizeiautos zu sehen, wo der Schrei herkommt.
Ich laufe um den Turm des Denkmals für den polnischen Untergrundstaat und die Heimatarmee herum, drücke mich durch Frauen und Männer, die Schilder halten, Fahnen schwenken und rufen. Ihre Augen richten sich zu diesem riesigen Parlamentsgebäude. Davor steht ein Anhänger, auf dem Frauen polnische Kampfrufe in Mikrofone brüllen.
Ich finde ihn nicht, den Schrei.
Was mich beruhigt, ist das Kratzen eines zu laut aufgedrehten Lautsprechers.
Meine polnische Freundin Kamila und ich sind in Warschau, der Hauptstadt Polens, auf einer Frauenstreik-Demonstration. Strajk Kobiet – wie es auf Polnisch heißt. Der Babyschrei kommt nicht aus den Reihen der wütenden Frauen. Er richtet sich gegen sie, soll sie provozieren. Doch da ist kein echtes Baby, kein kleiner Mensch, der leidet. Nur eine Tonaufnahme. Ein Schrei in Richtung der Menschen, die ihr Recht auf Selbstbestimmung einfordern.
Hunderttausende Frauen demonstrieren in Polen seit 2020 gegen das verschärfte Abtreibungsgesetz. Es verbietet Schwangerschaftsabbrüche fast vollständig. Die Frauen wollen es nicht hinnehmen. Sie wollen die wenige Macht über ihren Körper, die sie bis vor etwa einem Jahr noch hatten, wieder zurückgewinnen. Während die polnische Regierung aber gegenteilige Pläne hat.
Hier und jetzt stehen wir im Regen – vor dem Sejm. Marta, die in meine Kamera spricht, ist eine der Menschen, die sich hier versammelt haben. Die Gruppe heißt "Ogólnopolski Strajk Kobiet", also "Nationaler Frauenstreik". Sie existiert bereits seit 2016.
Ihre blauen und gelben Dreadlocks hat Marta zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, an der Seite sind ihre Haare abrasiert. Ein silberner Ring schmiegt sich um ihre Unterlippe. Sie trägt schwarze, zerfetzte Klamotten.
"Wir sind müde", sagt die Aktivistin, kurz nachdem sie auf einem beleuchteten Anhänger Kampfrufe in ein Mikrofon geschrien hat. "Und wir haben Angst – was kommt als Nächstes?" An diesem Abend berät das polnische Parlament erneut über das Gesetz. Deshalb treffen sich die Frauen auch außerhalb ihres montäglichen Rhythmus an einem Mittwoch.
Dabei geht es um zwei Dinge: einen Antrag der Initiative "Pro Recht auf Leben", die möchte, dass Abtreibungen sogar nach Vergewaltigungen verboten und mit lebenslanger Haft bestraft werden. Der zweite Punkt ist ein nationales Schwangerschaftsregister.
Letzterer wird wenige Tage später von der Mehrheit des Sejm auf den Weg gebracht.
Mit einem solchen Register erschwert die polnische Regierung, die von der rechtskonservativen Partei PiS angeführt wird, es Frauen künftig, eine Abtreibung im Ausland durchführen zu lassen. Kritikerinnen und Kritiker sorgen sich nicht nur um das gebrochene Recht auf Selbstbestimmung. Frauenrechtsorganisationen schätzen schon jetzt, dass pro Jahr etwa 200.000 Polinnen illegal abtreiben oder dafür ins Ausland gehen. Bei illegalen Abtreibungen ist das Risiko, zu sterben, besonders hoch.
"In diesem schönen Gebäude", sagt Marta, "sitzen viele alte, traurige Männer, die über unseren Körper bestimmen wollen."
Die Stimmung hier auf dem Platz vor dem Sejm ist weder ausgelassen noch aufgeheizt. Die Menschen rufen ihre Parolen. Protestroutine. Der Kampfgeist, der auf den Videos von den Demonstrationen im vergangenen Sommer zu hören war, scheint fast verpufft.
Zehntausende gingen damals hier auf die Straße. Sicherheitskräfte beendeten die Proteste teilweise gewaltsam, verhafteten Frauen und brachten sie in Gefängnisse außerhalb der Stadt. Die Protestierenden schrieben sich Telefonnummern von Anwältinnen auf ihre Unterarme, vernetzten sich untereinander.
Heute wirkt es, als machte sich Martas Müdigkeit über dem Platz vor dem Sejm breit. Die Veranstalterinnen versuchen zwar, die Stimmung mit Musik zu anzuheizen. Doch es bleibt bei dem Versuch.
Und ich? Ich suche nach wie vor nach dem Ursprung des Schreis. Wer spielt ihn ab? Was will er damit bezwecken? Was treibt ihn oder sie an? Tage später finde ich bei Nachrichtenagenturen Fotos von der Gegendemonstration. "Aborcja zabija" steht auf einem riesigen Transparent. "Abtreibung tötet". Darunter das Bild eines toten Fötus, umgeben von Schleim und Blut.
Auf meiner Suche begegne ich Dutzenden Polizistinnen und Polizisten. Sie stehen auf dem Denkmal vor dem Sejm und umringen die Protestierenden.
Ich laufe auf den Turm zu, der von einer Mauer aus Stein und Uniformen beschützt wird. Im Inneren des Schutzwalls offenbart sich ein kleiner, asphaltierter Platz. Ich versuche, an den Schultern und Köpfen der Uniformierten vorbeizusehen – und zu gehen. Doch die stellen sich mir in den Weg. Ich zeige meinen Presseausweis, doch der interessiert die Polizei nicht. "Sie dürfen hier nicht rein", sagt mir einer der Polizisten. Ich will wissen, warum. "Das hat Sie nicht zu interessieren", sagt er.
Hier – im Schutze des Denkmals und der Polizei – hat sich eine kleine Gruppe aus Abtreibungsgegnern und Männerrechtlern zusammengefunden. 20, vielleicht 30 Menschen. Eine viel kleinere Gruppe als die Hunderten Frauen. Einige dieser Gegendemonstranten stehen unter einem zwei-auf-zwei-Meter großen Pavillon, haben aber bereits damit begonnen, ihr Protestzelt abzubauen.
Ich diskutiere eine Weile mit einem Beamten. Eine Polizistin stößt dazu, streitet mit. Doch am Ende stehe ich noch immer auf der äußeren Seite der Polizeimauer. Und warte.
Drei, vier Minuten. Länger dauert es nicht, bis einer der Gegendemonstranten den Platz verlässt.
Seinen Namen will er nicht nennen. Er hat ein Schild dabei, auf dem steht: "Fatherhood begins at conception. Equal Responsibility, equal rights" – "Vaterschaft beginnt mit der Empfängnis. Gleiche Verantwortung, gleiches Recht". Der Mann, der seine Maske unter und eine Brille auf der Nase trägt, meint, Väter hätten in Polen kaum Rechte. Er demonstriere deshalb gegen Abtreibungen.
Es sei nicht fair, dass nur die Frau darüber entscheiden dürfe.
Zur Einordnung: In Polen entscheidet die Frau de facto eben nicht über eine Abtreibung.
Ich frage den Mann, ob es denn in Ordnung wäre, wenn Mann und Frau gemeinsam entschieden. "Sie sollten sich dafür entscheiden, das Kind zu bekommen", sagt er nur. "Familie ist etwas sehr Wichtiges."
Außerdem würden Väter kaum Unterstützung erfahren, meint er."In Großbritannien und den Niederlanden gibt es Sozialprogramme zur Unterstützung junger Väter, hier in Polen gibt es solche Programme nicht", sagt der Mann. "Wenn es solche Problemprogramme für Mütter gibt, sollte es die doch auch für Väter geben."
Er spricht über das Sorgerecht. Frauen hätten hier viel größere Chancen. "Ich bin ein Mensch, der ohne Vater aufgewachsen ist. Und jetzt bin ich ein Vater, dem der Zugang zum Kind verweigert wird."
Der Mann steht hier also mit seinem in Großbuchstaben beschrifteten Schild. Und sucht die Liebe seines Kindes.
Es sind aber nicht nur Männer mit tragischen Vergangenheiten, die hier den Schrei nach Liebe aussenden.
Kamila und mir begegnet ein Priester. Zumindest sieht er so aus: schwarze Kutte, Rosenkranz, das typische Kollar, also der weiße Stehkragen, und ein schwarzes Birett. Das ist eine quadratische Mütze mit drei oder vier Gipfeln oder Hörnern und einem Bommel in der Mitte.
Der Priester wird von drei jungen Männern begleitet, die wirken wie seine Bodyguards – in Jeans und Bomberjacke.
Kamila geht auf den Priester zu, will mit ihm sprechen, doch er nicht mit ihr. Während meine Freundin versucht, den Mann doch noch zu überzeugen, versammeln sich die Bomberjacken um Kamila. Sie bemerkt es nicht, sie konzentriert sich auf den Priester, der sie – das erzählt sie mir später – mit seinen Augen fast schon paralysiert.
Mir hingegen fällt diese Situation auf, doch ich fühle mich wie versteinert.
Als sich Kamila aus dem Männerkreis löst und zu mir, die drei Meter entfernt auf dem Bürgersteig wartet, rüber läuft, folgt ihr einer der Bodyguards. Er reißt seine strahlend blauen Augen auf und blickt tief in meine. Das Blau leuchtet so hell, dass es mir fast unwirklich vorkommt.
Es fühlt sich an, als könnte der Mann meine Gedanken lesen, durch mich hindurch blicken, direkt in meinen Kopf hinein.
Er starrt und starrt. Und sagt etwas auf Polnisch. Ich verstehe kein Wort, bin gelähmt. So fasziniert von den Augen, ohne Zeitgefühl. Er starrt weiter. Immer tiefer dringt er in meinen Kopf hinein, bis meine Schädelwand ihm nichts mehr offenbart. Er wartet meine Antwort ab. Aber ich sage einfach nichts.
Solange, bis sich Kamila einmischt, seine Worte wiederholt: "Szczęść Boże", sagt sie in einem freundlichen Ton. "Grüß Gott". Und ich frage mich, ob nur ich diese Unruhe, dieses kaum wahrnehmbare Zittern in Kamilas Stimme bemerke.
Dann dreht sich die Bomberjacke um und geht.
Dass sich auf dieser Demonstration vermutlich radikale Christen befinden, ist nichts Ungewöhnliches. Das fundamentalistische, ultrarechte und sich selbst als "Denkfabrik" bezeichnende "Insytut Ordo Iuris" gehört zu den engsten Beratern der polnischen Regierungspartei PiS, die seit ihrer Wahl für Verfassungs-, Medien-, LGBTIQ- und Frauenrechts-Krisen gesorgt hat. "Ordo iuris" ist Latein und bedeutet "Rechtsordnung".
Analysen dieser rechten Juristenvereinigung werden in Verfassungsgerichtsentscheidungen in Polen genutzt – die Richter, die diese Entscheidungen fällen, sind zum Großteil von der rechtskonservativen PiS-Partei eingesetzt worden.
Mit einem Analysten dieses Instituts können Kamila und ich Wochen nach unserem Besuch in Polen sprechen. Dieser meint, die Organisation sehe die Frage um Schwangerschaftsabbrüche aus rechtlicher Sicht. Es gebe kein Recht auf Abtreibung, aber ein Recht auf Leben und Erben. Der Fötus habe bereits im Mutterleib das Recht auf ein Erbe, sagt der Analyst im Videogespräch.
Selbst in Deutschland hat ein Fötus bereits ein Erbrecht: Im Bürgerlichen Gesetzbuch ist dieses ausdrücklich benannt. Das noch ungeborene Kind wird demnach bereits mit seiner Zeugung erbfähig, wenn auch erst mit der Geburt rechtsfähig. Voraussetzung ist, dass das Kind lebend geboren wird – und das gilt genauso auch in Polen. Unter anderem darauf beruft sich "Ordo Iuris" in seiner Analyse.
Während "Ordo Iuris" über den Erben im Mutterleib spricht und der polnische Staat Schwangerschaften registrieren will, kämpfen die Frauen weiter. Sie sammeln Unterschriften, um dem Parlament am internationalen Frauentag, dem 8. März, einen Gesetzesentwurf vorlegen zu können.
Damit erzwingen sie gewissermaßen eine Parlamentsdebatte über legale Abtreibung und die legale Informationsbeschaffung über Schwangerschaftsabbrüche.
Sie demonstrieren, sie schreien weiter.