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Die andere Perspektive

Polen in der Krise: Flüchtlinge an der Grenze, Frauenrechte, Stress um Justizreform

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Die andere Perspektive

Eskalation an der Grenze, Streit um Verfassung, Frauenrechte: So erlebt ein Student die Krisen in Polen

In Polen spielt sich eine Tragödie ab: Tausende Menschen versuchen, aus Belarus ins Land zu kommen.
Aber Polen hat noch mehr Probleme: Nationalismus, eine Verfassungskrise, Frauen- und LGBTQI-Feindlichkeit – und das war noch nicht alles. Der 23 Jahre alte polnische Student Mikołaj berichtet.
11.11.2021, 15:3406.01.2022, 07:21
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Die Lage in Polen spitzt sich zu: Da sind hunderte Menschen, die über der belarussischen Grenze ins Land wollen – Schutz und Asyl suchen in der Europäischen Union. Die polnische Regierung und das Militär lassen sie aber nicht rein. Und schicken sie zurück.

Da sind Reformen und Gesetze, die den Menschen im Land das Leben schwer machen. Zumindest dann, wenn sie nicht der weißen, heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft angehören. Oder wenn sie Frauen sind, die eine Schwangerschaft beenden möchten.

People take part in a demonstration against the abortion ban, in Warsaw, Poland, on October 22, 2021. (Photo by Piotr Lapinski/NurPhoto)
"Sex ist geil, aber hast du schon einmal die PIS gefickt?", steht auf dem Schild bei einer Demo gegen das Abtreibungsgesetz.Bild: NurPhoto / Piotr Lapinski

In der vergangenen Woche hat das strenge Abtreibungsgesetz in Polen das Leben einer jungen Frau gekostet.

Aufgrund einer Reihe von Medien- und Justizreformen zweifeln die EU und viele ihrer Mitgliedsstaaten an der Rechtsstaatlichkeit der Republik im Osten Europas.

Inside Polen
Bild: picture alliance / NurPhoto
Polen, was geht?
Was ist da eigentlich los in unserem Nachbarland?

Was bedeutet der Angriff auf den Rechtsstaat der nationalistischen PiS-Regierung für die Menschen vor Ort? Wie verwurzelt ist die Regierungspartei in der Bevölkerung? Wieso sind die Polen so wie sie sind? Wer sind sie überhaupt, "diese Polen"? Und wo steuern wir mit der Staatengemeinschaft EU hin?

In einer mehrteiligen Serie nimmt sich die watson-Politikredaktion dieser Fragen an, stellt Polen und seine Geschichte vor – und ordnet die aktuellen Probleme ein.

Serienteil 1:

Eskalation an der Grenze, Streit um Verfassung, Frauenrechte: So erlebt ein Student die Krisen in Polen

Serienteil 2:

Die Demokratie schwankt: Wie ist Polen da hingekommen? Ein Blick in die Vergangenheit

Serienteil 3:
Ein Staat und seine Krisen: Das ist Polens Rechtssystem – und darum könnte das Land zu einer Autokratie werden

Serienteil 4: Reportage - Polen und seine Menschen,
Kapitel 1: Bröckelnde Macht – über die katholische Kirche, ihren Einfluss auf das Leben aller und zweifelnde junge Gläubige
Kapitel 2: Zone der Schande – über Waldengel, Geflüchtete in Not und die Grenzpolizei
Kapitel 3: Schrei nach Liebe – über Wut, Müdigkeit, Frauen und ihre Gegner

In diesem ersten Serienteil berichtet ein junger Pole, wie er die aktuelle Lage im Land wahrnimmt, wie sich das Leben verändert hat. Sein Name ist Mikołaj, er ist 23 Jahre alt und studiert kroatische Philologie in der Stadt Opole im Südwesten von Polen. Expertinnen und Experten ordnen Mikołajs Eindrücke ein.

Mikołaj ist 23 Jahre alt und studiert in Opole.
Mikołaj ist 23 Jahre alt und studiert in Opole.Bild: privat

Polen, seine Grenze und die Geflüchteten – gibt es Pushbacks: ja oder nein?

Das sagt Mikołaj:

"Ich finde das Thema Geflüchtete sehr schwierig. Wir können nicht jeden Willkommen heißen. Wir können auch nicht jeden zurückweisen. Viele Menschen in Polen haben Angst vor Fremden – gerade aus dem arabischen Raum. Die Regierung schürt viele Vorurteile gegenüber dieser Gruppe. Und unsere Gesellschaft ist noch nicht so offen, wie es zum Beispiel Großbritannien oder Deutschland sind.

Polen hat kein Problem mit Einwanderung. Bei uns leben zum Beispiel mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine. Und das ist okay, sie sind uns ähnlich und sie sind legal hier. Aktuell haben wir aber ein Problem: Menschen, die uns sehr unähnlich sind, wollen, über unsere Grenze illegal in die Europäische Union einreisen. Wir haben Regeln und diese sollten wir auch einhalten.

Aber: Pushbacks (illegale Zurückweisungen ohne Prüfung eines Asylantrags, Anm. d. Red.) sind keine Option. Wenn Menschen Asyl suchen oder um Hilfe bitten – vor allem, wenn sie um Hilfe bitten – sollten sie nicht zurückgeschickt werden in den Wald. Nach Belarus. Wo sie auch nicht wegkommen.

Ich habe Geschichten gehört. Menschen an der Grenze, die vor Durst das giftige Wasser aus dem Fluss trinken, die Pilze sammeln, die man nicht essen kann, weil sie so großen Hunger haben. Frauen bekommen Kinder an der Grenze und werden medizinisch nicht versorgt. Das ist sehr schlecht. Unsere Regierung war nicht vorbereitet und jetzt machen sie aus politischem Kalkül genauso weiter – eben auch, weil sie vorher Stimmung gegen Asylsuchende gemacht haben."

Gefangen im "Niemandsland": Asyl- und Schutzsuchende an der belarussisch-polnischen Grenze.
Gefangen im "Niemandsland": Asyl- und Schutzsuchende an der belarussisch-polnischen Grenze.Bild: BelTA / Leonid Shcheglov

Das sagen Expertinnen und Experten:

Die Lage an der Grenze zwischen Polen und Belarus ist unübersichtlich und chaotisch. Laut Informationen der "Tagesschau" sollen mittlerweile hunderte Menschen versuchen, durch den Grenzzaun nach Polen und in die EU zu gelangen. Noch immer herrscht in der Region Ausnahmezustand, noch immer können weder Hilfsorganisationen noch Journalisten ohne Probleme an die Grenze.

Tausende Menschen warten an der Grenze im Wald darauf, dass sie eine sichere Zuflucht finden. Eine Zuflucht in der EU.

Noch schützen die polnischen Polizisten und Militärs die Grenze eigenständig, die europäische Grenzschutzorganisation Frontex wurde nicht dazugerufen. Möglicherweise auch, weil die PiS den polnischen Bürgern beweisen will, dass Polen in der Lage ist, sein eigenes Land zu verteidigen. Verteidigen, vor Menschen, die Schutz suchen. Verteidigen, unter anderem mit Tränengas.

"Polen verletzt europäisches Recht, indem es Menschen an der Grenze zu Weißrussland ohne Prüfung ihrer Schutzbedürftigkeit zurückweist", sagt Anuscheh Farahat in einem früheren Gespräch mit watson. Sie ist Professorin für Öffentliches Recht, Migrationsrecht und Menschenrechte an der Universität in Erlangen.

"Die PiS spielt die Karte aus, Angst vor dem Islam zu schüren", sagt Silke Plate von der Forschungsstelle Osteuropa. Ihr Spezialgebiet: Polen. Es sei aber bei weitem nicht so, dass alle in Polen fänden, denen, die an der Grenze seien, dürfe nicht geholfen werden. Wie die Zeitschrift "Stern" berichtete, hatten im Oktober tausende Polen gegen die Legalisierung dieser sogenannten Pushbacks und für die Aufnahme der Geflüchteten an der Grenze protestiert.

Zur Einordnung: PiS ist die Abkürzung für Prawo i Sprawiedliwość – zu Deutsch Recht und Gerechtigkeit – und sie stellt aktuell die relative Mehrheit der Abgeordneten im Parlament und regiert gemeinsam mit Solidarisches Polen (Solidarna Polska), der Partei des Justizministers Zbigniew Ziobro.

Polen und seine Reformen – Verfassungskrise und Streit mit der EU

Das sagt Mikołaj:

"Ich bin nicht glücklich über die Justizreform. Dadurch, dass die Justiz und die Regierung dicht zueinander rücken, dadurch, dass fast nur noch Richter der PiS im Verfassungsgericht sitzen, kann die Regierung jedes Gesetz erlassen, das sie erlassen will. Die Richter werden sagen, dass alles rechtens ist. Und die Regierung kann Gesetze neu verhandeln: wie das Abtreibungsgesetz im vergangenen Herbst.

Die aktuelle Situation ist also gefährlich für uns alle, weil die PiS die Macht in ihren Händen hat und sie niemand kontrollieren kann. Sie hätte die Möglichkeit, die Wahl in zwei Jahren zu verändern – ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Würden wir einen Wechsel wollen, wäre also die Frage, ob sich dieser Wechsel wirklich durchsetzen lässt.

Es gibt bei uns Fernsehsender, die im Sinne der PiS berichten. Meine Großeltern beispielsweise betiteln TVN (Die private Alternative zu den regierungstreuen Programmen, Anm. d. Red.) als Lügner. Sie vertrauen auch nicht mir oder meinen Eltern, sondern nur dem Staatsfernsehen. Wir reden mit ihnen mittlerweile gar nicht mehr über Politik. Es ist nicht schön, immer zu streiten, wenn man einander sieht. Es gibt nur noch schwarz oder weiß, gut oder böse. Keine Möglichkeit der Diskussion."

Seit der Justizreform zu nah an der Regierung? Das Trybunał Konstytucyjny – das Bundesverfassungsgericht in Polen.
Seit der Justizreform zu nah an der Regierung? Das Trybunał Konstytucyjny – das Bundesverfassungsgericht in Polen.Bild: NurPhoto / Piotr Lapinski

Das sagen Expertinnen und Experten:

Seit die PiS Polen regiert, gibt es immer wieder neue Reformen, die einerseits die Polen selbst, auf der anderen Seite aber auch die Europäische Gemeinschaft betreffen.

Darunter ist die seit 2015 laufende Reihe von Justizreformen.

In aller Kürze:

  • 2015 beginnt die PiS, viele Richter auszutauschen. So verschafft sie sich zumindest indirekt Einfluss auf die Rechtsprechung.
  • 2018 führt die Regierung eine Disziplinarkammer ein. Sie kann jeden Richter oder Staatsanwalt entlassen.
  • 2020 verabschiedet die PiS ein Gesetz, das es Richtern verbietet, sich politisch zu äußern, auch "Maulkorbgesetz" genannt.
  • Im Oktober dieses Jahres entscheidet das polnische Verfassungsgericht, dass einige Gesetze der Europäischen Union im Widerspruch zur polnischen Verfassung stehen.

Die polnische Juristin und Verfassungsexpertin Bogna Baczyńska schreibt in ihrer Analyse "Zwischen Verfassung und Präsidentenwillen. Der Umbau des Justizsystems in Polen": "Das Ziel der Regierung ist es, durch die Reform Justizpersonal, vor allem Richter, auszutauschen, um die Judikative als eine unabhängige Macht auszuschalten."

Die PiS habe das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die staatlichen Gewalten gebrochen. Baczyńska ist Dozentin an der Universität im polnischen Stettin und schreibt für das Deutsche Polen Institut in Darmstadt und die Forschungsstelle Osteropa der Uni Bremen Analysen über ihr Land.

2016 begann die PiS zusätzlich, die Medienlandschaft in Polen zu reformieren. Mit einem neuen Gesetz formte man die öffentlich-rechtlichen Medien zu nationalen um, sie gelten laut der Politikwissenschaftlerin und stellvertretenden Direktorin des Deutschen Polen-Instituts Agnieszka Łada nun als "Sprachrohr der Regierung".

Das verschaffte der PiS die Macht, Einfluss auf den Rundfunk auszuüben und dort auch Personalentscheidungen zu treffen. Journalistinnen und Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die nicht auf PiS-Parteilinie waren, konnten so gekündigt und durch regierungsnahe Journalisten ersetzt werden.

2021 kam dann eine weitere Einschränkung hinzu: In Polen dürfen künftig Rundfunklizenzen nur noch dann an ausländische Medienschaffende vergeben werden, wenn diese "ihre Zentrale oder ihren Wohnsitz im Bereich des Europäischen Wirtschaftsraums haben". Kritikerinnen und Kritiker sagen, dieses Gesetz richte sich vor allem an den Privatsender "TVN", der PiS-kritisch berichtete.

Polen, die PiS und ihre Nähe zu den Menschen – ist Polen zufrieden mit seiner Regierung?

Das sagt Mikołaj:

"In den vergangenen Jahren ist es schwieriger geworden, sich sicher zu fühlen. Es wird zum Beispiel schwieriger, sich in seiner eigenen Beziehung sicher zu fühlen. Allein der Gedanke, meine Freundin könnte schwanger sein und es bestünde die Möglichkeit, dass sie bei der Geburt stirbt, wir dürfen aber nicht abtreiben – das ist schlimm.

Auch die Tatsache, dass die Lehre und Forschung an Universitäten weniger frei ist, macht mich nervös. Kooperieren Universitäten nicht mit der Regierung, bekommen sie weniger Geld. Im Grunde genommen macht die PiS immer mehr Gesetze, um weiter in unser Leben einzugreifen.

Gleichzeitig geht es um die Balance, auch wenn die Regierung nicht meinen Wünschen entspricht. Wenn sie Respekt für mich haben, kann ich Respekt für sie aufbringen. Ein Dialog muss stattfinden können. Diese Balance kommt aber ins Wanken, wenn damit begonnen wird, bestimmte Gruppen zu stigmatisieren, zu mobben."

Nicht bei jedem beliebt, trotzdem mit großem Rückhalt in der Bevölkerung: Premierminister Mateusz Morawiecki.
Nicht bei jedem beliebt, trotzdem mit großem Rückhalt in der Bevölkerung: Premierminister Mateusz Morawiecki.Bild: NurPhoto / Maciek Musialek

Das sagen Expertinnen und Experten:

"Die PiS ist in Teilen der Bevölkerung fest verankert. Diese mobilisiert sie bei den Wahlen", sagt die Polen-Expertin Plate. Zum einen sei die Partei sehr beliebt, gerade bei der ländlichen, konservativen Bevölkerung.

Es gibt ein Sozialprogramm, das gerade Familien, die nach den Vorstellungen der katholischen Kirche zusammenleben, bevorteilt: eine monatliche, finanzielle Unterstützung ab dem zweiten Kind, eine Wohnungspolitik, die junge Familien unterstützt. Familie in Polen bedeutet allerdings ganz klassisch: Mutter, Vater, Kinder. Auch für Rentner wird viel getan, etwa mit einer 13. Monatsrente.

Laut aktuellen Umfragen des polnischen Meinungsforschungsinstituts Centrum Badania Opinii Społecznej befürworten im Oktober 2021 rund 33 Prozent der Polen die Regierung, 38 Prozent hingegen sind gegen die PiS. Trotzdem hat die regierende Partei bei der Sonntagsfrage die Nase vorne: 37,5 Prozent der Bürgerinnen und Bürger würden sie wählen. 25,4 Prozent würden die Koalicja Obywatelska, ein liberal-konservatives Bündnis wählen.

"Neben all der Sozialpolitik spricht die PiS mit ihrer Haltung in weltanschaulichen Fragen konservative Wähler an und fokussiert sich auf diese", sagt Plate. Und das sei ein großer Teil der Bevölkerung: konservativ, wenig vermögend, ländlich geprägt. Akademiker aus den Städten verteilten sich hingegen auf die anderen Parteien. Konkret bedeutet das: Wenige Menschen wählen viele verschiedene Parteien, viele Menschen wählen geeint die PiS. Dadurch ihre Übermacht.

Polen und das Ringen um sexuelle Selbstbestimmung – der Kampf um Feminismus und LGBTQ-Rechte

Das sagt Mikołaj:

"Es wird alles immer schlimmer. Die Regierung und die Kirche propagieren die traditionelle polnische Familie – wie Menschen zu lieben und auszusehen haben. Abtreibungen können dich ins Gefängnis bringen. Die Regierung sagt, wir haben Regenbogen-Terroristen in Polen. Während der Pride-Parade vor zwei Jahren wurden viele Menschen von Nationalisten zusammengeschlagen, nur weil sie nicht heterosexuell sind.

Was mich stolz macht, ist, dass so viele Menschen auf den Straßen für die Rechte der LGBTQI-Community, für Frauen und gegen das Abtreibungsverbot kämpfen. Gleichzeitig wird die Polizei immer aggressiver gegenüber den Protestierenden.

Nicht gut finde ich es aber, wenn im Zusammenhang mit diesen Protesten Häuser und Kirchen beschmiert werden. Die Proteste der vergangenen Jahre waren die größten in der jüngeren polnischen Geschichte. Ich denke, wir können etwas bewirken, ohne Zerstörung.

Was mich außerdem wütend macht: Dass die katholische Kirche so viel Macht hat. Dass sie mit der Regierung so eng zusammenarbeitet. Die Kirche profitiert davon. Die Regierung profitiert davon. Wir profitieren davon nicht. Während Corona zum Beispiel waren die Kirchen geöffnet, ganz ohne irgendwelche Sicherheitsmaßnahmen. Auch die Pädophilie in der Kirche ist noch immer ein Problem, das nicht aufgeklärt wird.

Ich warte nur noch auf den Moment, in dem die Menschen so sauer werden, dass sie gemeinsam gegen die Kirche rebellieren. Dass sich die katholische Kirche in Polen komplett erneuern muss."

Der rote Blitz ist das Zeichen der Bewegung, die für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen kämpft.
Der rote Blitz ist das Zeichen der Bewegung, die für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen kämpft.Bild: NurPhoto / Piotr Lapinski

Das sagen Expertinnen und Experten:

"Die katholische Kirche arbeitet sehr eng mit der Regierung zusammen", sagt die Wissenschaftlerin Silke Plate. Die Handschrift der Kirche lasse sich beispielsweise in der Abtreibungsgesetzgebung erkennen, ebenso in den Sozialreformen. "Alleinstehende Mütter, Schwule und Lesben werden dort nicht bedacht", sagt Plate.

Der polnische Theologe Stanisław Obirek fasst den Einfluss der katholischen Kirche auf watson-Anfrage folgendermaßen zusammen:

"Tatsächlich ist die PiS-Regierung autoritär und populistisch und sucht daher Unterstützung nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch in den radikalsten und extremsten Gruppen. Leider ist der katholische Klerus unter ihnen, sodass die PiS erfolgreich und eng mit nationalistischen und homophoben Medienzentren – Radio, Fernsehen, Zeitschriften – zusammenarbeitet, die vom Redemptoristen-Priester Tadeusz Rydzyk gegründet und geleitet werden. Rydzyk wird auch von verschiedenen Ministerien – insbesondere dem Justizministerium von Zbigniew Ziobro – großzügig unterstützt."

Die Abtreibungsgesetze sind rechtlich legitimiert: durch den Trybunał Konstytucyjny – also den Verfassungsgerichtshof. Die Richter dieses Gerichtes sind bis auf einen allesamt von der regierenden Partei PiS in ihren Stand gehoben worden. "Aktuell ist der Trybunał Konstytucyjny komplett der PiS unterstellt", erklärt der Theologe Obirek.

Die Einschränkung der LGBTQ-Rechte hänge hingegen weniger mit dem Gesetz zusammen. "Vielmehr ist es die homophobe Haltung einiger Politiker und einiger Geistlicher", meint Obirek und ergänzt: "Hier haben wir eine Reihe gelegentlicher Äußerungen, die in unserem Land eine homophobe Atmosphäre geschaffen haben."

Polen und sein
Nationalstolz

Das sagt Mikołaj:

"Ob ich stolz bin, Pole zu sein, ist eine sehr gute Frage. Ich bin sehr stolz auf meine Umgebung. Wirklich, ich liebe den Ort, an dem ich lebe. Ich mag die Menschen, die mich umgeben. Und ich finde auch, dass Polen ein wunderschönes Land mit tollen Menschen ist. Aber es gibt auch Probleme. Und ich kann nicht behaupten, auf alles stolz zu sein, was hier passiert.

Ich bin also stolz, Pole zu sein. Aber ich bin nicht stolz auf all das, was gerade in Polen passiert.

Es war schwer für mich, als ich wegen eines Erasmus-Semesters in Kroatien war, als die großen Proteste losgingen und meine neuen Kommilitonen mich gefragt haben, was zur Hölle in Polen passiert. Ich konnte nur antworten, dass die Regierung viele schlechte Dinge tut. Und das Polen trotzdem ein tolles Land mit tollen Leuten ist.

Was ich aber nicht verstehen kann, ist, dass manche Polen versuchen, unser Land in den Vergleich mit anderen Ländern zu setzen. Sich als was Besseres zu fühlen als zum Beispiel die Ukraine oder Tschechien, nur weil diese Länder kleiner sind.

Am Unabhängigkeitstag haben wir unsere Traditionen und ich finde das auch gut so. Es ist auch okay, dass die Rechten und Konservativen demonstrieren und zeigen, dass sie Polen und auch die Kirche lieben. Was aber nicht okay ist, wenn diese Demonstrierenden dabei andere Menschen gefährden oder Regenbogen-Flaggen von Balkonen reißen und demolieren. Sie können gerne ihre Meinung kundtun, aber bitte friedlich."

Scheint zum 11.11. in Polen dazuzugehören: Der Marsch der Unabhängigkeit.
Scheint zum 11.11. in Polen dazuzugehören: Der Marsch der Unabhängigkeit.Bild: dpa / Jan A. Nicolas

Das sagen Expertinnen und Experten:

123 Jahre lang war Polen kein eigenständiger Staat: zerteilt von Österreich, Preußen, Ungarn und Russland. Bis zum Tag der Unabhängigkeit am 11.11.1918. Seit 1989 – dem Jahr des Mauerfalls – nutzen Rechtsradikale diesen Tag, um zu marschieren. Und dieser Marsch wuchs – über die radikal rechte Szene hinaus. Mit Nationalflaggen und bengalischem Feuer.

Tausende haben im vergangenen Jahr in Warschau am "Unabhängigkeitsmarsch" teilgenommen. Trotz Verboten. Trotz Corona. Wie die "Tagesschau" berichtete, hatten die Organisatoren des Marsches zumindest versucht auf einen Autokorso umzustellen. Gefolgt sind dieser Aufforderung die wenigsten.

"Insgesamt kann man sagen, die Mehrheit der Polen ist stolz auf ihre Nation", sagt Andrzej Kaluza vom Deutschen Polen-Institut. Die große Mehrheit zeige diesen Stolz allerdings nicht in der Öffentlichkeit: "In Warschau leben fast zwei Millionen Menschen, marschieren tun 100.000 und die kommen nicht einmal alle aus Warschau." Früher sei der Unabhängigkeitstag ein Volksfesttag gewesen, der auch mit Märschen begangen wurde – dieser hätten aber keinen ausschließenden Charakter gehabt. "Die Rechtsradikalen bleiben eine Randgruppe. Gefährlich ist aber natürlich, dass es politische Gruppen gibt, die keine Notwendigkeit sehen, sich davon zu distanzieren", sagt Kaluza.

"Die Polen sind traditionell kein homogenes Volk – Polen war sozusagen ein Commonwealth", führt Kaluza aus. Ihre Könige seien aus Litauen, Deutschland, Rumänien gewesen – und trotzdem seien sie eine Nation gewesen. "Polen ist mit dem Zweiten Weltkrieg ein homogenes Land geworden – sowohl was die Sprache als auch was Kultur und Konfession angeht – viele Polen empfinden diesen Verlust der Vielfalt als schmerzhaft", sagt Kaluza.

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