Als sie ihm im Juli im Besucherraum eines türkischen Gefängnisses gegenüber sitzt, hat Esma ihren Vater seit knapp drei Jahren nicht mehr gesehen. "Ich habe fast an der Scheibe geklebt", berichtet sie im Gespräch mit watson. So nah wie irgend möglich wollte sie ihm sein.
Der Mann hinter dem Sicherheitsglas heißt Yasin O. Er ist deutscher Staatsbürger, in Deutschland aufgewachsen und arbeitete vor seiner Verhaftung im August 2019 als Flugzeugschlepperfahrer.
Er sitzt in der Türkei im Gefängnis, weil ihn das Erdoğan-Regime beschuldigt, ein Terrorist zu sein. Doch Yasin O. hat keine Bombe gebaut und auch keinen Anschlag geplant. In den Gerichtsunterlagen zu seinem Fall, die watson vorliegen, ist davon zumindest keine Rede.
Nein, der Deutsche wurde zu sieben Jahren Haftstrafe verurteilt, weil er mit den falschen Leuten chattete und die falschen Videos auf seinem Handy hatte. Videos von Türkeis Staatsfeind Nummer Eins: dem Prediger Fethullah Gülen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wirft Gülen und seinen Anhänger:innen vor, 2016 einen Militärputsch gegen ihn angezettelt zu haben. Jeder und jede, der oder die mit dem im Asyl lebenden Prediger in Verbindung gebracht wird, wird deshalb bestraft, verfolgt, eingesperrt.
Wie resolut Erdoğan dabei vorgeht, mussten Yasin O. und seine Familie schmerzhaft erfahren.
Seit drei Jahren sitzt O. in türkischer Haft. Unschuldig, beteuert seine Tochter. Er sei ein friedliebender Vater, kein Extremist, sagt sie. "Er sympathisiert mit Gülen und hört gerne seine Predigten. Das macht ihn aber nicht zum Terroristen", findet die 28-Jährige.
In die Fänge der türkischen Behörden kam O. im August 2019. Die Polizei erwischte ihn, als er Freunde der Familie außer Landes schaffen wollte. Sie sind wie er Gülen-Anhänger und fürchteten sich vor politischer Verfolgung, sagt Esma.
O. landete in Untersuchungshaft. Die Sicherheitsbehörden beschlagnahmten sein Handy – und fanden darauf das, was dem Deutschen letztendlich zum Verhängnis werden sollte: Videos von Predigten Gülens und Gruppenchats mit anderen Mitgliedern der Bewegung.
Laut dem zweiten Obersten Strafgerichtshof in Edirne hat er sich damit dem "Verbrechen der Mitgliedschaft einer bewaffneten Organisation" schuldig gemacht.
Seit dem Putschversuch 2016 wird die Gülen-Bewegung in der Türkei als "Fethullahistische Terrororganisation", kurz FETÖ, bezeichnet. Dass der Prediger und seine Anhänger:innen wirklich hinter dem gescheiterten Aufstand stecken, darf aber bezweifelt werden. Nach Einschätzung des Bundesnachrichtendiensts (BND) gibt es dafür keine Anzeichen.
Auch dass die Bewegung extremistisch oder gar terroristisch ist, wie die türkische Regierung behauptet, stimmt laut BND nicht. Zu diesem Schluss kam der deutsche Geheimdienst bereits 2017. Seitdem sind vermehrt auch kritische Stimmen gegen die Bewegung laut geworden.
Ein interner Bericht der deutschen Botschaft in Ankara beschrieb 2018 sektenähnliche Dynamiken und einen "konspirativen Kern", der "in seiner Struktur an Erscheinungsformen organisierter Kriminalität" erinnere. Recherchen des SWR haben 2022 ergeben, dass die Gülen-Bewegung in der Türkei nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt hat, um an Einfluss zu gewinnen und Anhänger:innen unter Druck zu setzen.
Auch der Wissenschaftler Yunus Ulusoy von der Essener Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung äußerte 2021 gegenüber "Zeit Online" Zweifel daran, dass die Bewegung die nach außen betonten demokratischen Werte wirklich lebt.
Trotz solcher Bedenken gibt es nach Einschätzung der deutschen Verfassungsbehörden keinen Anlass, die Gülen-Bewegung in Deutschland zu beobachten oder als gefährlich einzustufen.
Auch Esma kennt die Kritik, die Außenstehende häufig gegenüber der Gülen-Bewegung äußern. "Wir sind keine Sekte, sondern offen gegenüber allen anderen Kulturen", betont sie. Es ginge den Mitgliedern um Bildung und Gemeinschaft und das sei es auch, was ihr Vater an der Bewegung so schätze.
Von den deutschen Behörden ist die Familie schwer enttäuscht. "Sie haben ihn nur einmal besucht, nicht mal beim Urteil sind sie erschienen. Sie haben nichts gemacht, nur gesagt: 'Wir können uns in türkische Justizangelegenheiten nicht einmischen.'" Esma ist sich sicher: "Wäre er ein 'richtiger Deutscher', also hätte er einen typischen deutschen Namen, wäre er schon längst wieder raus." Auch ihr Vater glaubt das, sagt sie.
Esma verweist zudem auf den Fall Deniz Yücel. Der bekannte deutsche Journalist war von 2017 bis 2018 insgesamt 290 Tage in der Türkei inhaftiert. Ranghohe deutsche Politiker verhandelten damals und erwirkten schließlich seine Freilassung. "Deniz Yücel haben sie rausgeboxt, aber normalen Menschen wird nicht geholfen", sagt Esma. Und sie ist wütend.
Von watson mit dem Schicksal Yasin O.'s konfrontiert, heißt es vonseiten des Auswärtigen Amtes nur: "Der Fall ist uns bekannt. Die Botschaft betreut den Betroffenen konsularisch, auch im Rahmen von Haftbesuchen." Zu Einzelfällen äußere man sich grundsätzlich aber nicht im Detail.
Stand Oktober saßen laut dem Auswärtigen Amt 64 deutsche Staatsangehörige in der Türkei in Haft. Wie viele davon als vermeintliche Terroristen im Gefängnis sitzen, darauf will die Sprecherin nicht eingehen.
Anfang Dezember hat Esma ihren Vater erneut im Gefängnis besucht. "Er hat stark abgenommen", sagt sie. Von einem ehemaligen Mithäftling hat sie erfahren, dass er sich mit 24 Personen eine Zelle teilt, die eigentlich für acht Menschen ausgelegt ist. Teilweise schlafen sie dort ohne Matratze auf dem Boden.
Wegen der psychischen Belastung habe er sich Medikamente verschreiben lassen, erzählt Esma. Seine leise Hoffnung, die deutschen Behörden würden spätestens jetzt den Ernst der Lage erkennen, habe sich jedoch nicht erfüllt, sagt sie. "Auch das hat sie nicht interessiert."