Es sei nicht das erste Mal, dass Menschenrechtsverletzungen stattfinden im Iran. "Aber es ist das erste Mal, dass die Menschen von Teheran, Kurdistan und Belutschistan auf die Straße gegangen sind", sagt Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal im Gespräch mit watson und fährt fort:
"Für die Würde und das Leben Jina Mahsa Aminis. Weil sie es nicht übers Herz gebracht haben, dass diese junge Frau – wegen etwas Wind in ihrem Haar, weil sie das Kopftuch nicht richtig getragen hat – umgebracht worden ist von diesem Regime."
Mit ruhiger Stimme beschreibt sie den Beginn der iranischen Revolution mit der Losung "Jin, Jiyan, Azadî". Übersetzt: Frau, Leben, Freiheit. Auslöser der Proteste, die das ganze Land durchziehen, war die Hinrichtung Aminis am 16. September 2022.
Ein Thema, das Tekkal besonders nahe geht. Sie selbst ist Tochter kurdisch-jesidischer Eltern. War als Kriegsreporterin im Irak und hat dort zum Völkermord an den Jesid:innen im Norden des Landes recherchiert. In einer Dokumentation hat sie vor allem die Gewalt gegen jesidische Frauen in den Mittelpunkt gerückt. Verbrechen, die Tekkal nicht losließen.
Gemeinsam mit ihrer Schwester gründete sie die Menschenrechtsorganisation Háwar.help. Durch die iranische Revolution hat ihre Organisation, wie Tekkal es ausdrückt, eine neue Schwesternschaft dazu bekommen. Ein Faktor, der sie sehr rührt.
Sie führt aus:
Es sei genau diese weibliche Stärke gewesen, die Tekkal in den wenigen Monaten, die sie für ihre Recherchen im irakischen Kriegsgebiet verbracht hat, mehr gelehrt habe, als all die Jahre des Friedens. Und das sei es, was bleiben wird. "Wir reden oft im Kontext von Krieg über Unmenschlichkeit, aber es gibt auch immer Menschlichkeit", sagt sie.
Seit dem Tod Aminis, berichtet Tekkal, ist vor Ort viel passiert. Die Blackbox Iran sei geöffnet worden:
Bis zum Tod der jungen Frau. Denn nun, meint Tekkal, gebe es eine revolutionäre Bewegung. Das sei es, was passiere, "wenn die da oben nicht mehr wollen und die da unten nicht mehr können". Über 600 Demonstrierende wurden bereits getötet.
Auch die mediale Aufmerksamkeit war auf den Kampf gegen das Mullah-Regime gerichtet. Mittlerweile aber hat sich der Fokus wieder verschoben. Die Proteste aber, meint Tekkal, finden immer noch statt. Sie sagt:
Aus diesem Grund sei die Entscheidung gegen das Kopftuch ein Akt der Emanzipation und Revolution. Die Art und Weise, wie sich das Regime in den vergangenen Tagen verhalten hätte, zeige, dass die Mullahs nichts mehr fürchten als ihre eigene Zivilbevölkerung. Gerade im kurdischen Teil, im Westen Irans, rüsteten die Revolutionsgarden enorm auf.
Das wird dem Regime langfristig aber wohl nicht helfen. Denn Tekkal ist sich sicher: "Der Geist der Freiheit ist aus der Flasche entwischt. Insbesondere die Generation Z ist ideologisch extrem weit weg von diesem faschistisch-klerikalem System."
Tekkal ruft deshalb dazu auf, dass die Welt und Deutschland die Bilder nicht vergessen dürften. "Wir müssen als Schallverstärker dieser Freiheitsbewegung agieren und an sie erinnern", fordert die Menschenrechtsaktivistin.
Denn die größte Angst der Menschen vor Ort sei es, dass die freie Welt sie vergisst. Denn die politisch Inhaftierten seien zwar so laut, wie sie sein könnten – aber letztlich sitzen sie in einem Foltergefängnis.
Tekkal selbst habe erst kürzlich mit einem solchen ehemals Inhaftierten sprechen können. Er habe ihr in die Augen geschaut und gesagt, dass das, was ihn und seine Mitgefangenen am Leben gehalten habe, das Wissen gewesen sei, dass sie nicht vergessen würden. Trotz aller Entmenschlichung und Folter.
"Die Menschen, die dort ihr Leben riskieren und in den Foltergefängnissen von Evin sitzen, sitzen dort, weil sie Visionen haben. Weil sie einen freien Iran wollen. Weil sie die Intelligenz und die Akademiker dieses Landes sind, landen sie im Gefängnis und am Galgen", sagt Tekkal. Klar sei aber: Die Revolution ist nicht mehr aufzuhalten "Über 80 Prozent der Menschen sind durch mit diesem Regime."
Deswegen müsse der Protest weiterhin unterstützt werden – auch von uns in Deutschland. Wir könnten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und so tun, als wäre das alles nicht passiert, sagt sie.
Es sei wichtig, dass Menschenrechtsorganisationen wie Háwar.help und viele andere medial sichtbar sind. Und auch die Auszeichnung, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zwei Tage vor dem Todestags Aminis einer iranischen Aktivistin stellvertretend für die Freiheitsbewegung im Iran verliehen hat, sei wichtig für diese Aufmerksamkeit. Der Kampf gegen den Freiheitsentzug dürfe nicht nur den politischen Entscheidungsträger:innen überlassen werden.
Verantwortlich für das, was im Iran geschehe, sei allein das Mullah-Regime. Tekkal räumt ein:
Sie selbst erinnert sich eindrücklich an die Bilder der Frauen, die sich unbewaffnet den Revolutionsgarden entgegengestellt und gesagt hätten: "Schießt mir doch in den Kopf". Und sie erinnert sich auch an die 120.000 Menschen in Berlin, die sich in den Armen gelegen hätten. Die den Schmerz der Traumata, als Kinder von politisch Geflüchteten aus dem Iran, denen die Heimat genommen worden ist, geteilt hätten.
Was absolut gar nicht gehe, sei, dass das iranische Regime weiterhin auf der Weltbühne willkommen ist. Tekkal nennt beispielsweise die Vereinten Nationen, die dem Iran weiterhin den roten Teppich ausrollen würden.
"Ebrahim Raisi und Außenminister Amir-Abdollahian werden in New York erwartet, um zu sprechen. Während der Iran weiterhin internationale Geiseln als Faustpfand einsetzt, sitzen die Mörder an den Verhandlungstischen und werden hofiert", sagt Tekkal wütend.
Die UN lasse sich so auf die Geiseldiplomatie des Regimes ein – das dürfe nicht länger passieren.