watson: Herr Hofreiter, der Ausschluss Russlands aus dem internationalen Finanzsystem Swift umfasst nur eine Handvoll Banken, die Europäische Union und Deutschland zahlen täglich wahnsinnig viel Geld für fossile Rohstoffe und finanzieren so den Krieg mit – trauen wir uns nicht, Putin die Stirn zu bieten?
Anton Hofreiter: Es gibt natürlich gute Gründe, warum die Bundesregierung sehr vorsichtig ist, was den kompletten Boykott von fossilen Energien aus Russland angeht.
Nämlich?
Es stellt sich die Frage, ob man die Sanktionen in Europa dauerhaft durchhalten könnte. Außerdem hätte ein Importstopp auch Auswirkungen auf andere – insbesondere ärmere – Länder, denen man dann das LNG-Gas wegkaufen würde. Aber ich persönlich bin der Meinung, dass wir alles dafür tun sollten, dass wir keine fossilen Energien mehr aus Russland importieren müssen.
Das heißt, Sie sind für einen Importstopp.
Ich halte es für notwendig, dass man noch einmal verschärft schaut, was ein Importstopp bedeutet. Und ich persönlich halte einen Importstopp für richtig.
Es zeigt sich in diesem Konflikt, dass die Sicherheit in Europa nach wie vor von Russland und den USA abhängt. Ist die EU zu schwach?
Wir brauchen eine viel stärkere europäische Solidarität. Und da hat insbesondere Deutschland auch in der Vergangenheit schwere Fehler gemacht: Schon bei Nord Stream 1 haben Polen, die baltischen Staaten und auch die Ukraine protestiert. Nord Stream 2 ist gegen massive Widerstände durchgesetzt worden. Jetzt ist es richtigerweise nicht in Betrieb gegangen.
Bevor Deutschland beschlossen hat, dass die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 nicht an den Start gehen wird, hat der US-Präsident Joe Biden bereits klargestellt, dass die Vereinigten Staaten zur Not die Inbetriebnahme verhindern werden. Haben die USA zu viel Macht in Europa und in Deutschland?
Nein. Die USA haben nicht zu viel Macht. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union müssen sich bewusst machen, dass sie Problemen nur gewachsen sein werden, wenn sie eng zusammenarbeiten. Es gibt in Europa nur kleine Länder und Länder, die noch nicht begriffen haben, dass sie kleine Länder sind. Deutschland ist sicher eines der größeren und mächtigeren kleinen Länder. Trotzdem haben wir ein hohes Eigeninteresse, europäisch zusammenzuarbeiten. Und wir haben in der Vergangenheit reihenweise Fehler gemacht.
Würden Sie sagen, dass die bisherige EU-Flüchtlingspolitik einer dieser Fehler war?
Ja. Und ich glaube, allen ist spätestens jetzt bewusst, dass es faire und humane Regeln für die Flüchtlingspolitik innerhalb der Europäischen Union braucht. Es sind gerade Länder, die sich in der Vergangenheit besonders dagegen gewehrt haben, die jetzt zum Glück sehr viele Geflüchtete aufnehmen.
Eines dieser Länder ist Polen. An der polnisch-belarussischen Grenze wird Völkerrecht gebrochen, da werden Menschen zurückgeschoben. Können Sie sich uneingeschränkt darüber freuen, dass Polen jetzt Leute aufnimmt, während an einer anderen Landesgrenze weiterhin Geflüchteten das Recht auf Asyl verwehrt wird?
Ich kann mich uneingeschränkt freuen, dass Geflüchtete aufgenommen werden. Aber deswegen darf man das andere Problem nicht ignorieren. Und das macht auch die Europäische Union schwach.
Inwiefern?
Weil Autokraten wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan aufgrund einer "europäischen Angst" vor geflüchteten Menschen die Europäische Union unter Druck setzen. Das ist nicht nur inhuman, sondern eine geostrategische Schwäche, die auch Diktatoren wie Alexander Lukaschenko ausnutzen.
Gehen Sie davon aus, dass sich jetzt etwas in der EU-Asylpolitik bewegen wird?
Ich würde es mir wünschen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich passieren wird.
In den Sozialen Medien wird aktuell oft von Geflüchteten erster und zweiter Klasse gesprochen. Wie blicken Sie auf diese Diskussion?
Ich finde, man sollte generell nicht zu sehr auf Diskussionen in den sozialen Medien blicken, weil dort viel Quatsch verbreitet wird. Die Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine ist total klasse – ich wünsche mir aber, dass wir auch im Blick haben, wie es anderen Menschen geht.
Es gibt weiterhin Probleme in Geflüchtetenlagern, zum Beispiel auf der griechischen Insel Lesbos. Genauso, wie eben schon erwähnt, an der polnisch-belarussischen Grenze. Werden diese Menschen vergessen?
Ich glaube nicht, dass diese Menschen vergessen werden. Wir müssen aber versuchen, die Solidarität, die es jetzt gibt, auf alle Geflüchteten zu erweitern. Natürlich muss man auch deutlich machen, dass wir eine andere Politik in vielen Regionen brauchen. Aber schon bei Afghanistan hat sich ja gezeigt, welche Schwächen unsere Politik hat.
Welche Schwächen denn genau?
Es gibt eine ganze Reihe von Schwächen: Nicht immer wirklich zu den eigenen Werten zu stehen. Zum Beispiel im Umgang mit Geflüchteten. Oder aus kurzfristigen, taktischen Erwägungen strategische Fehler zu begehen. Diese Schwäche haben wir insbesondere im Umgang mit Diktatoren.
Inwiefern?
Natürlich profitieren wir auch ökonomisch davon, wenn wir Produkte nach China exportieren oder billige Energie aus Russland importieren. Aber am Ende hat das Konzept "Wandel durch Handel" bei diesen beiden Diktaturen nicht funktioniert. Trotzdem haben wir es einfach immer weiter gefahren. Und am Ende haben sowohl China als auch Russland mit diesen finanziellen Einnahmen aufgerüstet. China bedroht ein kleines, demokratisches Land, nämlich Taiwan, massiv. Russland hat eine Demokratie überfallen. Ich finde, hier zeigen sich die Schwächen schlaglichtartig.
Wenn wir jetzt davon ausgehen, dass sich aus Russland und China ein totalitärer Block bilden könnte und wir 2024 möglicherweise auch einen Präsidenten in den Vereinigten Staaten haben, der nicht Joe Biden heißt, sondern eher Donald-Trump-Format hat: Wie müsste sich Europa rüsten, um weiterhin schlagkräftig zu bleiben?
Europa muss viel mehr investieren. Europa muss auch mehr Geld für Waffen ausgeben, aber wir brauchen vor allem einen erweiterten Sicherheitsbegriff.
Nämlich?
Wir müssen uns überlegen, wie gehen wir mit China weiter um? Haben wir ein Interesse daran, dass es ökonomisch noch stärker wird? Wie werden wir energie-souverän? Wie arbeiten wir anständig mit ärmeren Ländern zusammen, die demokratisch sind? Welche Art von Handelspolitik wollen wir betreiben? Wie stärken wir den Euro? Brauchen wir dafür nicht regelmäßige gemeinsame europäische Schuldenaufnahmen? Es geht aber natürlich auch um Fragen von Infrastruktur.
Inwiefern?
Der griechische Hafen von Piräus ist zum Beispiel einer der größten und wichtigsten am Mittelmeer. Und er gehört quasi dem chinesischen Staat. De facto haben wir als Deutschland darauf gedrungen, dass Griechenland verkauft. An eine immer und immer aggressiver auftretende Diktatur. Das sind alles Dinge, die sich grundlegend ändern müssen.
Müssen wir die Globalisierung in Teilen zurückdrehen?
Ich glaube nicht, dass wir die Globalisierung als solche zurückdrehen müssen. Aber wir müssen uns überlegen, wen wir mit einer undifferenzierten Globalisierung stärken. Wenn man Demokratien wie in Australien, Neuseeland und Südafrika oder – mit all ihren Schwächen – in Nigeria stärkt, dann ist das etwas völlig anderes, als wenn man eine imperiale Diktatur wie China oder Russland unterstützt.
Tatsächlich ist es so, dass gerade Menschenrechte in Ländern wie China nicht besonders hoch im Kurs stehen. Das Lieferkettengesetz könnte das jetzt ein wenig abmildern.
Wie gesagt, man muss da vor allem ganz stark auf die eigenen geostrategischen Interessen schauen. Wir sind in Teilen abhängig von dem großen chinesischen Markt. Aber China ist auch abhängig von dem großen europäischen Markt. Und es gibt Unmengen Produkte, die in China hergestellt werden, die wir nicht mehr selbst produzieren. Als Beispiel lassen sich hier die FFP2-Masken nennen. Gleiches gilt, wenn man an die Energie-Abhängigkeit aus Russland denkt. Wir müssen das infrage stellen, insbesondere wenn es sich um undemokratische, zum Teil aggressive imperiale Mächte handelt.
Die Pandemie mitsamt ihrer Verknappung und der Krieg mit der Energiedebatte sind zwei konkrete Beispiele, die uns gerade gezeigt haben, dass die Globalisierung Grenzen hat. Glauben Sie, dass diese Schlaglichter jetzt wirklich zu einem Umdenken führen werden?
Ich hoffe es. Aber ich möchte betonen, dass man nicht einfach simpel Globalisierung sagen sollte. Es macht einen Unterschied, ob man mit einem demokratischen Land zusammenarbeitet oder ob man mit einer Diktatur kooperiert. Es geht darum, darauf zu achten, mit wem man Handel treibt. Wie man es jetzt bei Russland sieht: Sie nutzen das Geld, das sie mit Energieexporten verdient haben, um ihre Armee aufzurüsten und die Ukraine zu überfallen. Auch, weil wir so lange die Augen zugedrückt haben. Wenn wir ehrlich sind, hat der Ukraine-Krieg 2014 mit der Eroberung der Krim und der militärischen Unterstützung der Separatisten in Donezk und Luhansk angefangen. In den vergangenen acht Jahren sind dort viele Menschen gestorben.
Das heißt, wir haben damals zu schwach reagiert.
Wir haben deutlich zu schwach in der Hinsicht reagiert, dass wir uns die Konsequenzen nicht bewusst gemacht haben.
Welche genau?
Russland hat die Ukraine angegriffen, obwohl Russland eigentlich eines der Länder ist, das sich dem Schutz der Ukraine verpflichtet hatte – durch das Budapester Memorandum aus dem Jahr 1994. Die Ukraine war die erste große Atommacht, die komplett auf null abgerüstet hat. Im Gegenzug haben die drei Garantie-Mächte Russland, Großbritannien und die USA der Ukraine die territoriale Integrität zugesichert. Nun ist es nicht nur so, dass die Schutzmacht Russland die Ukraine nicht verteidigt, sie ist sogar der Aggressor. Das ist auch ein ganz krasser Rückschlag für weitere Abrüstungsbemühungen weltweit. 2014 hat diese Aggression angefangen und 2015 hat Deutschland die Verträge für den Bau von Nord Stream 2 unterzeichnet. Im Rückblick muss man sagen, dass das ein unglaublicher Vorgang ist, eine fatale Entscheidung von Ex-Kanzlerin Angela Merkel und ihres damaligen Wirtschaftsministers Siegmar Gabriel.
Ein Vorgang, der lange Zeit ignoriert wurde.
Wir haben als Grüne immer den Stopp dieser Pipeline gefordert.
Wobei sie jetzt auch in der Regierung sitzen. Wäre der Krieg nicht ausgebrochen, wäre Nordstream 2 trotz allem an den Start gegangen.
Das ist Spekulation.
Aber wir wissen alle, dass wir nicht alleine an der Regierung sind und unser großer Koalitionspartner sich mit aller Kraft für diese Pipeline eingesetzt hat.
Deutschland hat nun 100 Milliarden für die Armee locker gemacht. Im Falle eines Angriffes auf ein europäisches Land wäre allerdings die gesamte Union zum Beistand verpflichtet – inwiefern ergibt es Sinn, 27 nationale Armeen auszubauen, statt eine gemeinschaftliche Armee zu bilden?
Was auf alle Fälle notwendig wäre, ist eine deutlich engere Zusammenarbeit der europäischen Armeen. Wir müssen uns stärker absprechen und enger kooperieren. Denn aktuell wird wahnsinnig viel Geld in Equipment und Kampfsystemen versenkt. Wenn man die 27 Rüstungsetats der Europäischen Union zusammenzählt, kommt da sehr viel Geld zusammen. Ob aber eine europäische Armee das kluge Ziel ist, da würde ich ein Fragezeichen dran machen.
Warum?
Das kommt nicht infrage, solange Dinge wie die parlamentarische Kontrolle einer solchen Armee nicht geklärt sind. Zudem haben wir dann am Ende eine weitere bewaffnete Supermacht auf diesem Planeten. Und ich weiß nicht, ob es uns an bewaffneten Supermächten mangelt.
Nun ist die Ukraine kein EU-Staat, obwohl sie bereits 2015 beitreten wollte. Damals hatte es die Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgeschlossen. War das rückblickend betrachtet ein Fehler?
Ich glaube, der Hauptfehler war, dass man Putin nicht viel früher viel energischer entgegengetreten ist. Dass man ihn nicht viel früher ökonomisch unter solchen Druck gesetzt hat, dass er gar nicht in der Lage gewesen wäre, seine Nachbarländer anzugreifen. Denn dass er das tut, hätte man spätestens 2008 wissen können, als er Georgien überfallen hat. Allerspätestens aber 2014.
Wäre die Lage besser, wenn die Ukraine Teil der EU wäre?
Hätte das damals alles geklappt, glaube ich nicht, dass Putin die Ukraine angegriffen hätte. Es gibt eine Beistandsklausel im EU-Vertrag, Artikel 42, die härter ist, als der Artikel 5 der Nato.
Jetzt hat die Ukraine einen Eilantrag für den EU-Beitritt gestellt, trotzdem dürften mindestens Monate, eher Jahre vergehen, bis das tatsächlich Realität werden würde. Wie sinnvoll ist es, so einen Antrag zu stellen?
Ich glaube, es war sinnvoll. Wenn man so bedroht ist, ist das einfach auch ein wichtiges Zeichen. Aber ich glaube, wir sollten das trotzdem alles vernünftig handhaben.
Inwiefern?
Wir haben mehrere Krisenregionen in Europa. Zum Beispiel in der Balkanregion, da haben wir eine ganze Reihe von Ländern, die alle EU-Mitglied werden wollen – Nordmazedonien und Albanien bemühen sich seit Jahren. Und dort haben wir auch das Problem, dass Russland und China zündeln. Man muss also die Auswirkungen berücksichtigen. Um die gesamte Region des Westbalkans müssen wir uns viel stärker bemühen und dafür sorgen, dass die Beitrittsperspektive der Länder ernsthaft ist. Sonst haben wir über kurz oder lang auch dort wieder zunehmend Probleme.