Eine Mehrheit der jungen Generation fühlt sich in der Pandemie vernachlässigt. Dies hat zuletzt eine Umfrage im Auftrag von watson im Januar gezeigt. Zwei Drittel der Befragten haben das Gefühl, ihre Interessen würden nicht ausreichend berücksichtigt.
Fast zeitgleich haben wir bei watson eine Serie gestartet, für die wir junge Menschen begleitet haben, die daran etwas ändern wollen. Wir haben von Januar bis September sieben junge Erwachsene im Alter von 18 bis 35 porträtiert, die für den Bundestag kandidierten – von der Christdemokratin Wiebke Winter über den FDP-Politiker Benjamin Strasser bis zur Grünen Ricarda Lang.
Wir haben sie persönlich begleitet, ihnen bei diesem außergewöhnlichen Wahlkampf über die Schultern geschaut – und versucht, zu verstehen, was diese Menschen ausmacht und was sie dazu antreibt, Politik zu machen.
Daraus sind sieben Texte entstanden, sieben Porträts:
Nun liegt die Wahl hinter Deutschland, und es ist klar: Fünf dieser sieben jungen Politikerinnen und Politiker haben es in den Bundestag geschafft.
Ein Überblick über ihre Ergebnisse – und darüber, was die Porträtierten aus ihrem Wahlkampf gelernt haben.
Verena Hubertz, Gründerin des Start-Ups "Kitchen Stories" und Direktkandidatin im Wahlkreis Trier, hat ihren Wahlkampf mit einem großen Erfolg abgeschlossen: Die 33-Jährige eroberte das Direktmandat in Trier für die SPD von der CDU zurück und ist nun Teil der 206-köpfigen sozialdemokratischen Fraktion.
Gegenüber watson fasst sie zusammen:
Ann Cathrin Riedel hat es nicht geschafft. Die heute 34-jährige Netzpolitikerin und Expertin für digitale Bürgerrechte hatte im vergangenen Winter für Platz vier der Berliner Landesliste kandidiert. Der Listenparteitag hatte sie aber nur auf Platz fünf gewählt. Es hätte in keinem Fall gereicht: Nur die ersten drei FDP-Kandidaten auf der Berliner Landesliste haben es in den Bundestag geschafft. Bei ihrer Direktkandidatur im Wahlkreis Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost hatte Riedel keine auch nur halbwegs realistische Chance: In ganz Deutschland hat seit 1990 kein FDP-Politiker mehr ein Direktmandat gewonnen, Riedels Berliner Wahlkreis ist außerdem einer der politisch am stärksten links wählenden der Republik.
Riedel spricht nach der Bundestagswahl trotzdem mit viel Optimismus über ihre Kandidatur. Gegenüber watson erklärt sie:
Die FDP-Politikerin fordert nach den Gesprächen, die sie im Wahlkampf geführt hat, deutlich mehr Aufmerksamkeit der politischen Parteien für den Rassismus, unter dem Menschen mit Migrationsgeschichte leiden. Sie sagt:
Wiebke Winter hätte ein Wunder gebraucht, um es aus Bremen-Nord und Bremerhaven in den Bundestag zu schaffen. Das ist nicht geschehen. Die 25-jährige CDU-Politikerin war Direktkandidatin in einem Wahlkreis, der bisher immer an die SPD ging, und so auch diesmal. Mit einem Vorsprung von fast 17 Prozentpunkten hat der SPD-Bundestagsabgeordnete Uwe Schmidt sich das Direktmandat gesichert. Auf der Bremer CDU-Landesliste war Wiebke Winter nur auf den aussichtslosen Platz drei gewählt worden.
Trotzdem hat Wiebke Winter in den Monaten an politischer Macht dazugewonnen: Sie ist Mitbegründerin der "Klimaunion", die innerhalb der CDU für konsequenten Klimaschutz eintritt – und sie war Teil des "Zukunftsteams", das Unionskanzlerkandidat Armin Laschet Anfang September vorstellte.
Winter betrachtet die Kandidatur als "Geschenk", wie sie gegenüber watson erklärt. Wörtlich meint sie:
Ricarda Lang hat mit 27 Jahren den nächsten, wichtigen Schritt ihrer politischen Karriere geschafft. Lang, die schon stellvertretende Bundesvorsitzende der Grünen ist, hat bei der Bundestagswahl über die baden-württembergische Landesliste der Partei den Sprung ins Parlament geschafft. Beim Kampf um das Direktmandat in ihrem Wahlkreis Backnang – Schwäbisch Gmünd landete sie hinter den Kandidaten von CDU, SPD, FDP und AfD mit 11,5 Prozent der Erststimmen allerdings nur auf Platz fünf.
Ricarda Lang nimmt nach eigenen Angaben aus ihrem Wahlkampf vor allem mit, wie stark soziale Themen Menschen beschäftigen. Sie erklärt gegenüber watson:
Jessica Rosenthal ist seit Januar 2021 Vorsitzende der SPD-Jugendorganisation Jusos. Sie folgte dem SPD-Vize Kevin Kühnert nach, der die Jusos in den Monaten nach der Bundestagswahl 2017 mit seiner No-Groko-Kampagne wieder zum Machtfaktor in der SPD gemacht hatte. Im frisch gewählten Bundestag wird Rosenthal außerdem SPD-Abgeordnete. Sie hat zwar das Direktmandat in Bonn nicht geholt, weil sie mit einem hauchdünnen Rückstand von 216 Stimmen hinter ihrer grünen Gegenkandidatin Katrin Babette Uhlig lag. Doch Platz 11 auf der SPD-Landesliste in Nordrhein-Westfalen reichte ihr für den Einzug.
Rosenthal versendete kurz nach ihrem Einzug schon eine klare politische Botschaft mit Blick auf die anstehenden Koalitionsverhandlungen: Sie ließ sich zusammen mit den Bundeschefs der Grünen Jugend, Anna Peters und Georg Kurz, ablichten – in einer Art Parodie des Selfies des Grünen-FDP-Verhandlungsteams aus Annalena Baerbock, Robert Habeck, Volker Wissing und Christian Lindner.
Benjamin Strasser hatte schon eine denkbar sichere Ausgangsposition. Der 34-Jährige aus dem schwäbischen Berg bei Ravensburg war der einzige junge FDP-Politiker aus der watson-Porträtserie, der schon im Bundestag saß. Strasser, der sich in seinen ersten vier Jahren einen Namen als Experte für Terrorismusbekämpfung und Sicherheitsbehörden gemacht hat, hat den Wiedereinzug über die baden-württembergische Landesliste geschafft, er war dort auf Platz sechs gewählt worden. 16 FDPler schafften am Ende den Einzug.
Seine wichtigste Lektion aus diesem Wahlkampf? Strasser antwortet watson so:
Isabel Cademartori hat es geschafft. Die 33-Jährige hat ihren Heimatwahlkreis Mannheim mit 26,4 Prozent der Erststimmen für die SPD zurückerobert. Vor vier Jahren hatte die CDU hier die meisten Erststimmen geholt – genauer gesagt ein CDU-Politiker, der im März 2021 bundesweit bekannt wurde. Nikolas Löbel war einer der Unionspolitiker, die für die Vermittlung von Schutzmasken an staatliche Stellen satte Provisionen kassiert hatten. Einige Tage, nachdem Journalisten die Vorwürfe bekannt gemacht hatten, legte Löbel sein Bundestagsmandat nieder und trat aus der CDU aus.
Die CDU verlor in Mannheim nach der Affäre um Löbel fast 10 Prozentpunkte der Erststimmen. Beachtlich ist Cademartoris Erfolg aber unabhängig davon: Sie holt den Wahlkreis Mannheim nach 16 Jahren für die Sozialdemokraten zurück. Die Betriebswirtin Cademartori, deren Familie aus Chile stammt, ist eine der Abgeordneten, die dafür sorgen, dass in der neuen SPD-Fraktion der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund von knapp 10 auf 17 Prozent steigt.
Auf die Frage von watson, was sie im Wahlkampf gelernt habe, hat Cademartori eine prägnante Antwort: