Sie hat viele Bezeichnungen: Journalistin, Aktivistin, Politikwissenschaftlerin. Düzen Tekkal kämpft unermüdlich für Menschrechte weltweit – wie etwa für das kurdische Volk. Bild: IMAGO/Future Image / T. Bartilla
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Die Kurd:innen bezeichnen sich selbst als "größtes Volk ohne Land". Laut der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) leben heute etwa 24 bis 27 Millionen Kurd:innen verteilt in fünf Ländern. Davon 13 Millionen in der Türkei.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan führt seit Jahren einen erbitterten Kampf gegen das kurdische Volk. Nun wittert es wohl seine Chance, ihn abzuwählen. "Es ist erstaunlich, wie viele Kurd:innen überwiegend Erdoğan-Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu gewählt haben", sagt Journalistin Düzen Tekkal auf watson-Anfrage.
Tekkal mahnt: Kurden leiden unter Erdoğan
Tekkal besitzt selbst kurdisch-jesidische Wurzeln und setzt sich für die kurdischen Menschen weltweit ein. Dazu rief sie etwa 2015 die Menschenrechtsorganisation "HÁWAR.help" ins Leben. Laut der BPB werden den Kurd:innen bis heute grundlegende Menschenrechte verweigert – sowie auch in der Türkei unter Erdoğan.
Laut Tekkal hat sich die Menschenrechtslage der Kurd:innen unter dem türkischen Präsidenten dramatisch verschlechtert. "Die Kurd:innen sind Erdoğan leid sowie seine Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtswidrigen Angriffe in Nachbarländern", führt die Journalistin aus, die sich auch für das kurdische Volk etwa in Nordsyrien und im Iran einsetzt.
CHP und HDP: Eine ungewöhnliche Allianz gegen Erdoğan
Aus der Not heraus hat sich daher wohl die sozialdemokratische CHP, angeführt durch Oppositionsführer Kılıçdaroğlu, und die pro-kurdische HDP zusammengeschlossen. Eine ungewöhnliche Verbindung, meint Tekkal. Laut ihr zeigt das: Es geht viel damit einher, dass man diese 20 Jahre Autokratie und Diktatur Erdoğans endlich abwählen möchte.
Bereits vor der Wahl hatte die HDP angekündigt, Oppositionsführer Kılıçdaroğlu unter bestimmten Bedingungen zu unterstützen und darauf verzichtet, eine:n eigene:n Kandidat:in aufzustellen, was das Oppositionsbündnis stärkt.
Tekkal zufolge haben sich die Kurd:innen wieder einmal dem demokratischen Prozess angeschlossen und sich dem Gemeinwohl untergeordnet nach der Devise: Dann wählen wir eben strategisch. Ein Grund für diese Entscheidung könnte laut ihr auch der prokurdische Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş spielen.
Rolle des prokurdischen Oppositionspolitikers Selahattin Demirtaş
Denn Demirtaş rief dazu auf, für Kılıçdaroğlu abzustimmen. "Er genießt noch immer ein großes Ansehen unter den Kurd:innen", erklärt Tekkal. 2014 trat er noch selbst als Kandidat bei der Präsidentschaftswahl gegen Erdoğan an. Seit Herbst 2016 sitzt er im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne.
Grund: Er soll im Jahr 2014 regierungsfeindliche Proteste provoziert haben, bei denen mehr als 50 Menschen starben. Laut Erdoğan sei er ein "Terrorist".
Inhaftierter Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş nimmt offenbar Einfluss auf die Präsidentschaftswahl.Bild: AP / Lefteris Pitarakis
Brisant: Laut "Tagesspiegel" ist Kılıçdaroğlu mitverantwortlich, dass Demirtas im Gefängnis sitzt. Er und seine Partei CHP stimmten demnach 2016 für ein Gesetz, mit dem Demirtaş und anderen Kurdenpolitiker:innen die parlamentarische Immunität entzogen wurde.
Das hielt Demirtaş offenbar nicht davon ab, Kılıçdaroğlu zu unterstützen. In einem Tweet schreibt er: "Ich glaube aufrichtig, dass Sie den sozialen Frieden sichern und der Türkei Frieden und Wohlstand bringen werden. Meine Stimme ist für dich, Kılıçdaroğlu."
Laut Tekkal könnte Demirtaş dazu beigetragen haben, dass es diesen Zusammenhalt zwischen CHP und HDP gibt. "Denn was alle Kräfte vereint, so unterschiedlich sie ideologisch auch sind, ist das Ziel: Erdoğan muss weg", sagt die Aktivistin. Auch Kılıçdaroğlu hat Tekkal zufolge diesen Zusammenhalt gefestigt, indem er sich öffentlich zu seinen alevitischen Wurzeln bekennt. "Damit hat er durchaus ein Tabu gebrochen, das ist ein Novum", sagt sie.
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Kılıçdaroğlu will offenbar die Spaltung im Land überwinden
Sprich, eine Neuheit. Denn Angehörige dieser muslimischen Glaubensgemeinschaft vermeiden es wohl, offen mitzuteilen, dass sie Aleviten sind. Die Angst vor Diskriminierung ist zu hoch. Doch dann bekennt sich Kılıçdaroğlu im April vor der ganzen Welt: "Ich bin ein Alevit."
Das Video schlug ein wie eine Bombe. Mittlerweile wurde es mehr als 115 Millionen Mal angeschaut. Kılıçdaroğlu ruft die Wählenden dazu auf, die Spaltung des Landes zu überwinden. Eine Botschaft, die wohl vor allem die jungen Menschen im Land anspricht. Auf diese setzt auch Tekkal ihre Hoffnung.
Gen Z bringt politischen Wandel voran
Die Generation Z spielt laut Tekkal eine große Rolle für einen politischen Wandel im Land – ähnlich wie in Iran. Sie sagt:
"Die jungen Menschen sprechen etwa Klartext mit ihren Eltern: Hey, ihr wurdet getäuscht. Der Einzige, der zu Reichtum gekommen ist, ist Erdoğan selbst."
Schließlich sei das Land verarmt und die Inflationsrate verschlimmere die wirtschaftliche Lage. "Nun sieht alles nach einer Stichwahl am 28. Mai aus. Erdoğan konnte nicht die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang erreichen", sagt Tekkal.
Doch laut ihr zeigen die Ergebnisse aus dem kurdischen Teil in der Türkei: Erdoğan gewinnt nicht mehr im Handumdrehen Wahlen. "Möge das ganze Land diesem Beispiel folgen", meint Tekkal.
Boris Pistorius (SPD) ist seit Januar 2023 Bundesverteidigungsminister unter Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Er gilt als einer der beliebtesten Politiker Deutschlands.