Seit sieben Monaten regiert in Deutschland die selbsternannte Fortschrittskoalition – die Ampel. SPD, Grüne und FDP haben es sich in ihrem Koalitionsvertrag zur Aufgabe gemacht, Deutschland zu modernisieren.
Beim Ampel-Gipfel von watson diskutieren drei Vertretende der Ampel-Jugendorganisationen über die Politik der Regierung: Sarah-Lee Heinrich, die Bundessprecherin der Grünen Jugend (GJ), Philipp Türmer, stellvertretender Vorsitzender der Jungsozialisten (Jusos), und Nemir Ali, stellvertretender Vorsitzender der Jungen Liberalen (Julis).
Der Ampel-Gipfel erscheint in drei Teilen. In diesem ersten Teil geht es um die Arbeit der Koalition, das Bafög und die Generationenfrage.
Watson: Philipp, Sarah-Lee und Nemir, als wir das letzte Mal in dieser Runde diskutiert haben, spracht ihr von der historischen Chance, eine Regierung ohne die Union zu bilden. Das hat geklappt. Und ihr spracht davon, Verbesserungen für die Menschen anzustoßen. Hat das auch geklappt?
Philipp Türmer (Jusos): Man konnte nicht mit dem russischen Angriffskrieg rechnen, der recht früh in der Legislatur begann. Dieser Krieg hat die Karten neu verteilt und dazu geführt, dass die Regierung in weiten Teilen im Krisenmodus ist. Trotzdem wurden einige wichtige Reformen angestoßen, die im Koalitionsvertrag geplant waren: die Abschaffung von 219a oder auch die schnelle Einführung des Mindestlohns.
Aber natürlich wird das Leben der Menschen aktuell stark von den Auswirkungen des Krieges überschattet – deswegen ist die vordringlichste Aufgabe der Koalition, die Menschen aufzufangen und ihnen bei den gestiegenen Kosten unter die Arme zu greifen. Das Krisenmanagement wird die Arbeit der Regierung weiterhin beeinflussen und die Ampel wird sich daran messen lassen müssen, wie gut ihr das gelingt.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Auch ich habe mich in der letzten Zeit nach einigen Kommentaren von Merz, Söder und Co. gefreut, dass die Union nicht mehr in der Regierung ist. Die Ampel hat sich aber schon rund um das Sondierungspapier selbst ein Bein gestellt.
Die eine ganz zentrale Schwachstelle ist, dass die Ampel sich in Sachen Haushalt und Soziales nicht einigen konnte – gleichzeitig gibt es aber die Zusage, keine Steuern zu erhöhen und die Schuldenbremse wieder einzuhalten. Damit hat sich die Regierung die Möglichkeit genommen, in Krisen ausreichend Handlungsspielraum zu haben und schnell reagieren zu können. Gerade mit Blick auf den Herbst macht mir das wirkliche Sorgen.
Nemir Ali (Julis): Die Grundlage, die wir mit dem Koalitionsvertrag haben, war zum damaligen Zeitpunkt sehr gut. Natürlich wurde dort nicht alles berücksichtigt, mit dem wir uns heute konfrontiert sehen. Aber Philipp, es stimmt nicht, dass niemand den Krieg hat kommen sehen. Die Gefahr, dass Russland zu so etwas fähig ist, haben durchaus viele gesehen – sie wurde aber insbesondere von Teilen der SPD lange ignoriert.
Aber niemand hat mit der Akutheit gerechnet, mit der Deutschland nun Russland entgegentreten muss. Der Krieg in der Ukraine stellt eine Gefahr für unsere Freiheit und Sicherheit dar und wir werden uns über ganz andere Dinge als den Sozialstaat unterhalten, wenn die Ukraine verliert. Wir müssen aber nachhaltige Entlastung für die Menschen schaffen. Um das zu finanzieren, müssen wir an die Subventionen ran.
Watson: Die Regierung hat auf den Krieg schnell reagiert. Stichwort: Sondervermögen Bundeswehr. Lässt sich für die weitere Finanzierung auch innerhalb der Koalition über die Schuldenbremse und die Vermögenssteuer streiten?
Nemir Ali (Julis): Wir müssen über vieles diskutieren. Mit Blick auf die Schuldenbremse rate ich davon ab, sie leichtfertig über Bord zu werfen. Wir haben in den vergangenen Jahren schon riesige Mengen an Schulden angehäuft, vieles war notwendig. Dazu kommen weitere Belastungen: Die Folgen der Pandemie, die Klimakrise, die Tatsache, dass der Frieden in Europa Geschichte ist. Das Letzte, was junge Menschen in Deutschland brauchen, sind neue Schulden.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Ich merke, dass nicht nur ich hier widersprechen will, sondern Philipp auch. Mach' du ruhig zuerst.
Philipp Türmer (Jusos): Danke. Es ist Unsinn, dass die Schuldenbremse die Belastung für die junge Generation vermeiden würde. Das Umgekehrte ist der Fall. Wir müssen jetzt in die Zukunft investieren. Das hätten wir auch schon vor dem Krieg gemusst. Dadurch, dass die Schuldenbremse gerade ausgesetzt ist, ist unser Staat handlungsfähig. Und das sollte er auch in Zukunft sein.
Und natürlich fällt uns auf die Füße, dass die FDP schon im Wahlkampf kein tragfähiges Finanzierungskonzept hatte und auch bis heute keins vorweisen kann. Irgendwann muss auch die finanzpolitische Zeitenwende der FDP kommen.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Ich möchte bei einem Punkt anknüpfen. Nemir, du hast vorhin gesagt, dass wir uns, wenn die Ukraine verliert, um ganz andere Sachen Gedanken machen werden als den Sozialstaat. Wenn die Ampel es angesichts von Inflation und Energiekrise nicht schafft, die Menschen ausreichend für den Herbst und Winter abzusichern, dann könnte das dazu führen, dass die Solidarität für die Ukraine einbricht. Sie geht ohnehin schon zurück.
Wir werden nur dann entschlossen reagieren können, wenn die Menschen in Deutschland ausreichend sozial abgesichert sind.
Nemir Ali (Julis): Wir haben durchaus eine soziale Absicherung in diesem Land. Wir haben einen Sozialstaat, bei dem beispielsweise bei Hartz IV die Sätze regelmäßig an die Inflation angepasst werden.
Philipp Türmer (Jusos): In diesem Jahr um drei Euro.
Nemir Ali (Julis): Wir können ja mal schauen, wie sie im kommenden Jahr steigen. Die Inflation steigt erst jetzt. Anders sieht das übrigens bei den Steuern aus. Wenn dort die Menschen durch die hohe Inflation weniger Einkommen haben, dann steigt auch die Steuerlast. Hier müssen wir über Entlastungen sprechen.
Ich möchte aber was ganz Allgemeines zu dir sagen, Philipp. Du hast richtigerweise hervorgehoben, dass Schulden es in der Krise ermöglicht haben, dass der Staat handlungsfähig ist. Und genau deswegen ist es laut Grundgesetz ja erlaubt, die Schuldenbremse während einer Krise auszusetzen.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Aber sind wir nicht in einer Krisenzeit?
Nemir Ali (Julis): Wenn wir permanent ohne Not neue Schulden machen, kommen wir irgendwann in die Situation, dass wir keine neuen Schulden aufnehmen können, wenn wir sie wirklich brauchen. Zumindest nicht, ohne einen Staatsbankrott zu riskieren. Unter den aktuellen Umständen bin ich optimistisch, dass wir es 2023 ohne neue Schulden schaffen können.
Philipp Türmer (Jusos): Das Schauermärchen vom Staatsbankrott aufgrund von hoher Staatsverschuldung ist durch keine Evidenz bestätigt. Länder, die man wirtschaftlich mit Deutschland vergleichen kann – zum Beispiel die USA, Großbritannien oder Kanada – haben viel höhere Schulden, ohne dass sie am Rande des Staatsbankrotts stehen. Auch die Erzählung, Hartz IV würde sich automatisch an die Inflation anpassen, ist ein Mythos. Klar, das wäre wünschenswert, aber dafür müsste das dringend reformbedürftige Gesetz für die Beitragsbemessungen endlich angepasst werden.
Nemir Ali (Julis): Wir sehen, welche Probleme Eurostaaten aufgrund ihrer Verschuldung haben. Zum Beispiel Griechenland oder Zypern, Spanien und Irland ...
Philipp Türmer (Jusos): Ein völlig unzureichender Vergleich.
Nemir Ali (Julis): Wir sehen gerade, dass die Zinserhöhung der EZB dazu führt, dass Italien in ernsthafte Schwierigkeiten kommt, seine Anleihen zu bedienen. Zu behaupten, Staatsverschuldung wäre überhaupt kein Problem, sorry, aber das ist einfach leichtsinnig.
Watson: Ich hake mal bei der Inflation ein: Wir haben vor kurzem eine Umfrage in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist, dass sich die Mehrheit der Studierenden von der Politik im Stich gelassen fühlt. 42 Prozent haben aktuell die Sorge, dass sie ihr Studium nicht mehr finanzieren können. Könnt ihr das nachfühlen?
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Ja, ziemlich gut. In der öffentlichen Diskussion über Armut fallen Studierende und junge Menschen leider manchmal etwas hinten runter. Viele denken bei Armut an arbeitslose, ältere Menschen. Vielleicht noch an die alleinerziehende Mutter. Aber das öffentliche Bewusstsein, wie viele Jugendliche eigentlich armutsgefährdet sind, fehlt. Die Ampel muss einen Weg finden, auch junge Menschen ordentlich abzusichern.
Watson: Das Bafög wurde jetzt in Teilen reformiert. Gefördert werden trotzdem noch weniger als 20 Prozent der Studierenden. Wie kann das Gesetz weiter verbessert werden?
Nemir Ali (Julis): Letzten Endes brauchen wir Elternunabhängigkeit und auch mehr Flexibilität, wenn es zum Beispiel um die Höhe des Beitragssatzes geht. Was wir vorschlagen ist, dass es neben dem Bafög-Zuschuss, den man nicht zurückzahlen muss, noch einen zinsfreien Kredit gibt. Dessen Höhe sollten Studierende monatlich anpassen können, damit sie gut auf spontane Mehrausgaben reagieren können.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Oder wir sorgen dafür, dass die Studierenden endlich über die Entlastungspakete so abgesichert sind, dass sie nicht in finanzielle Notlagen kommen. Für viele junge Menschen – gerade Kinder aus Arbeiterfamilien – ist es eine extreme Hürde, Schulden aufzunehmen. Warum gehen wir nicht stattdessen an den Zuschuss ran? Es ist doch gut angelegtes Geld, wenn wir in die Bildung junger Menschen investieren. Deshalb ist der Vollzuschuss wichtig.
Nemir Ali (Julis): Mir ist es an der Stelle erst mal wichtiger, dass wir so viele junge Menschen wie möglich überhaupt ins Bafög bekommen. So geben wir ihnen die Chance, zu studieren.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Bei der Elternunabhängigkeit bin ich total bei dir.
Nemir Ali (Julis): Die Schulden, die Studierende mit dem Bafög machen können, sind begrenzt auf 10.000 Euro. Fast jeder, der ein erfolgreiches Studium abschließt, wird später in der Lage sein, das zurückzuzahlen. Für die wenigen Fälle, in denen das nicht geht, können Regeln geschaffen werden, damit das Bafög nicht zur Schuldenfalle wird.
Philipp Türmer (Jusos): Die Bafög-Reform geht einige Schritte in die richtige Richtung. Aber sie kann nur der Ausgangspunkt sein. Es muss weitergehen, und zwar in Richtung Vollzuschuss. Was außerdem wichtig ist: Die Beantragung des Bafög muss weiter erleichtert werden.
Watson: Die Beantragung von Bafög ist für viele nicht das einzige Problem. Gerade Kinder aus Arbeiterfamilien studieren immer noch seltener als Akademikerkinder. Wo muss die Ampel noch ansetzen, um Bildungsgerechtigkeit zu erreichen?
Philipp Türmer (Jusos): Was häufig vergessen wird, wenn es um die Finanzierung von Studierenden oder Auszubildenden geht, ist das Kindergeld. Unter den aktuellen Bedingungen müssen wir dringend über eine Erhöhung des Kindergelds sprechen. Im Rahmen der ganzen Reform der Kindergrundsicherung muss einerseits das Kindergeld als solches angehoben und andererseits eben auch an volljährige Kinder direkt überwiesen werden.
Nemir Ali (Julis): Insgesamt ist das Bafög ein wichtiges Instrument dafür, weil es zumindest theoretisch ermöglicht, dass jeder Mensch in Deutschland studieren kann. Sprechen wir aber insgesamt über Bildungsgerechtigkeit, müssen natürlich noch andere Punkte in den Blick genommen werden. Im Koalitionsvertrag gibt es das sogenannte Startchancen-Programm. Mit dem wollen wir Talent-Schulen schaffen, die Schülerinnen und Schüler individuell fördern. Gerade jetzt nach der Corona-Pandemie muss das dringend gestartet werden.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Ich komme aus dem Ruhrgebiet, dort gibt es ein paar Talentschulen, die mehr Mittel zur Förderung von Schülerinnen und Schülern haben, das ist gut. Gleichzeitig können nicht alle auf diese Schulen gehen. Insgesamt mangelt es im Bildungswesen an allen Ecken und Enden, deshalb wünsche ich mir eine große Initiative. Bund und Länder müssen besser miteinander kooperieren, wenn es um die Finanzierung des Bildungssystems geht – das ist etwas, worauf sich unsere Parteien eigentlich gut einigen können sollten.
Watson: Wir hatten schon die Bedeutung der Schuldenbremse für junge Menschen besprochen. Jetzt ging es um die Finanzierung der Chancengleichheit. Muss die Politik in Zukunft mehr auf junge Menschen achten?
Nemir Ali (Julis): Wir sehen bei ganz vielen zentralen Entscheidungen der letzten Jahre, dass die Bedürfnisse junger Menschen wenig Raum eingenommen haben. Zum Beispiel bei der Schuldenmacherei, genauso bei der Coronapolitik – oder aber auch in was für eine fatale Abhängigkeit man sich von autokratischen Regimen begeben hat. Und deshalb ganz klar die Forderung: Wahlalter ab 16 Jahren!
Philipp Türmer (Jusos): Ich bin auch für die Absenkung des Wahlalters, aber wir sollten uns davor hüten, das als Allheilmittel zu betrachten. Es ist wichtig, dass junge Menschen weiterhin ihre Stimme erheben. Die jetzige Reform des Bafög geht zurück auf eine kollektive Organisation verschiedener Jugendverbände, die das gefordert haben. Wichtig für unsere Generation ist es, dass wir es trotz der ganzen Krisenpolitik nicht unterlassen, langfristige Investitionen in unsere Gesellschaft zu tätigen.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Das Besondere an unserer jungen Generation ist, dass wir wieder größere Protestbewegungen haben. Ich habe aber das Gefühl, dass sich in der Zivilgesellschaft das Gefühl festgesetzt hat: Die Ampel ist besser als die Groko, die werden schon das Richtige machen.
Klar, es gibt gute Entscheidungen der Ampel. Aber trotzdem, das haben wir in den vergangenen Monaten gesehen, braucht es auch den Druck von der Straße. Deswegen ist lauter Protest weiter wichtig, von der Klimabewegung und ab Herbst sicher auch von sozialen Bewegungen. Ich bin nicht optimistisch, dass die Ampel die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Inflation aus sich heraus gelöst bekommt.
Watson: Nun besteht die Ampel auch in Teilen aus Mitgliedern eurer Jugendorganisationen. Habt ihr den Eindruck, dass die junge Sichtweise dadurch besser ins Parlament kommt?
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Es ist total wichtig, dass mehr junge Menschen im Parlament sind. Aber: Allein diese Runde zeigt sehr gut, dass junge Menschen nicht alle dieselbe Meinung haben.
Auch wenn jetzt mehr junge Menschen für die FDP im Bundestag sitzen, gibt es bei solchen Interessensfragen trotzdem einen Unterschied. Es geht weniger um Generationen als um Interessen. Oft ist es weniger ein Jung-Alt Konflikt, sondern häufiger ein Unten-Oben-Konflikt.
Watson: Wobei es den Jung-Alt-Konflikt bei Fragen wie Bafög gibt.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Ich habe nicht den Eindruck, dass es ältere Menschen in der Grundrente sind, die ein Problem damit haben, wenn man etwas am Bafög ändert. Klar: Dinge verändern sich, weil eine junge Generation sich dafür einsetzt. Aber ich glaube nicht, dass es einen Konflikt zwischen der alten und der jungen Generation gibt.