In vielen Metropolen der Welt gibt weiter Demonstrationen für die Menschen in Afghanistan, wie hier auf dem Bild in der französischen Stadt Toulouse. Bild: www.imago-images.de / Alain Pitton
Exklusiv
Die Taliban erobern Afghanistan und es gibt einen Aufschrei in der deutschen Gesellschaft. Dann kommt die Bundestagswahl und die Zustände am Hindukusch geraten fast wieder in Vergessenheit. Aber nur fast.
14.10.2021, 14:2915.10.2021, 11:37
"Kabul Luftbrücke" rettet weiter. Nur nicht mehr ganz so medienwirksam, wie es die Initiative, die unter anderem von Grünen-Politiker Erik Marquardt ins Leben gerufen wurde, noch im August getan hat – zu der Zeit, als die neue alte Afghanistan-Krise ihren zwischenzeitlichen Höhepunkt hatte. Zumindest, was die mediale Aufmerksamkeit angeht.
Dass noch immer Deutsche in Afghanistan festsitzen, dass dort noch immer Menschen von den radikal-islamischen Taliban verfolgt werden, dass Frauenrechte, Menschenrechte drohen, komplett ausgehebelt zu werden – das findet allerdings noch immer statt. Menschen wollen fliehen, doch die Wege raus aus dem Land werden immer beschwerlicher.
Erik Marquardt hat gemeinsam mit der Hilfsorganisation "Sea Watch" und der Filmemacherin Theresa Breuer die Initiative "Kabul Luftbrücke" ins Leben gerufen. Bild: Fred MARVAUX
Marquardt, der zurzeit in Berlin mit seiner Initiative arbeitet, beschreibt die aktuelle Lage im Gespräch mit watson so:
"Die aktuelle Situation ist immer noch ziemlich dynamisch. Der Weg ins Nachbarland Pakistan wird immer schwieriger für die Menschen in Afghanistan. Die bürokratischen Hürden machen es den Menschen vor Ort fast unmöglich, herauszufinden: Wer erfüllt überhaupt die Voraussetzungen, um evakuiert zu werden? Wer darf raus, wer nicht?"
Die Initiative will dabei unterstützen. Laut Marquardt hat die Gruppe nun ein sogenanntes Case-Management aufgebaut. Heißt: Eine "Abteilung" innerhalb der Initiative kümmert sich um einzelne Fälle von Menschen, die bei "Kabul Luftbrücke" um Hilfe gebeten haben. "Wir können natürlich niemandem versprechen, evakuiert zu werden", erklärt Marquardt. "Wir können die Menschen aber mit Informationen versorgen: Wo können sie Hilfe bekommen? Wo gibt es Programme, die sich um die Evakuierung kümmern? Und manchmal können wir auch bei der Evakuierung helfen."
Dies geschehe allerdings nun immer seltener über gecharterte Flugzeuge, sondern über den Landweg.
Lage droht im Winter
zu eskalieren
Zusätzlich zu den sowieso schon schwierigen Umständen kommt noch ein weiteres Problem: der Winter.
Denn schon jetzt, wenige Wochen nach dem Abzug der Nato-Truppen aus Afghanistan, ist die humanitäre Lage für Millionen Menschen in dem Land katastrophal. Es mangelt an Essen, Trinkwasser, medizinischer Versorgung und auch die Stromversorgung wird knapper und knapper. Kommt nun der Winter, wird sich diese Situation noch einmal drastisch verschärfen, warnt die Deutsche Welthungerhilfe.
Die Nato hatte ihren fast 20 Jahre andauernden Militäreinsatz in Afghanistan vor wenigen Wochen beendet, dann kamen die Taliban zurück, eroberten das Land. Die Folge: Auch internationale Hilfsorganisationen mussten ihre Projekte stoppen und alle Helferinnen und Helfer schützen, also aus dem Land holen.
Vor wenigen Tagen berieten sich dazu nun die Staats- und Regierungschefs der 20 einflussreichsten Industriestaaten der Welt. In einem G20-Sondergipfel beschlossen die Teilnehmenden, humanitäre Hilfsgelder in Höhe von einer Milliarde Euro beizusteuern.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere Vertreter der G20-Staaten wollen in Afghanistan trotz der Machtübernahme der Taliban einen Staatskollaps verhindern. "Zuzuschauen, wie 40 Millionen Menschen ins Chaos verfallen, weil weder Strom geliefert werden kann, noch ein Finanzsystem existiert, das kann und darf nicht das Ziel der internationalen Staatengemeinschaft sein", sagte die CDU-Politikerin am Dienstag nach dem Gipfel. Wenn in dem Land das gesamte Währungs- oder Finanzsystem zusammenbreche, könne auch keine humanitäre Hilfe mehr geleistet werden.
"Man macht die gleichen Fehler, die man auch bei der Krise in Syrien gemacht hat: Man schaut sich gerade nicht an, was gut und was schlecht läuft. Man fragt sich nicht, wo können wir gezielt wieviel Geld reinstecken?"
Grünen-Politiker Erik Marquardt
Nach UN-Angaben sind rund 18 Millionen Afghaninnen und Afghanen – und damit die Hälfte der Gesamtbevölkerung – auf humanitäre Hilfe angewiesen. 93 Prozent der Haushalte haben nicht genug zu essen. Die Grundversorgung steht nach UN-Einschätzung vor dem Zusammenbruch.
Die Staats- und Regierungschefs der G20-Staaten berieten erstmals bei einem Sondergipfel über die Krise am Hindukusch. Auf Einladung Italiens wurde bei der Videoschalte vordergründig über die humanitäre Lage in dem Land und die Sorge des Auslands vor neuen Terrorgefahren gesprochen. Zudem ging es darum, wie künftig mit den Taliban umgegangen werden soll.
Für Grünen-Politiker Marquardt gehen die Entscheidungen aus dem G20-Gipfel nicht weit genug. "Man macht die gleichen Fehler, die man vor 20 Jahren gemacht hat, die man auch bei der Krise in Syrien gemacht hat: Man schaut sich gerade nicht an, was gut und was schlecht läuft. Man fragt sich nicht, wo können wir gezielt wie viel Geld reinstecken", sagt er.
"Hätte man das getan, wäre man nicht auf den Betrag von einer Milliarde Euro gekommen." Bei mehr als 40 Millionen Menschen im Land, sei eine Milliarde Euro ein Tropfen auf den heißen Stein. "Eine Milliarde – das klingt erst mal viel. Aber rechnet man das um, dann sind das 25 Euro pro Person."
Was Marquardt zusätzlich Sorge bereitet:
"Als es im August akut darum ging, Menschenleben zu retten, wurde hier in Deutschland diese absurde Debatte geführt: 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Aber 2015 ist nicht vom Himmel gefallen. Dass 2015 viele Menschen auf der Flucht aus Syrien nach Europa kamen, war die Folge von einem jahrelangen schlechten Krisenmanagement und der daraus resultierenden humanitären Krise in Syrien und den Anrainerstaaten. Man hat sich nicht adäquat um die Grundbedürfnisse der Menschen gekümmert. In Afghanistan droht eine solche humanitäre Katastrophe nun auch."
Auch müsse man schauen, dass das Wirtschafts- und Finanzsystem in Afghanistan nicht weiter zusammenbreche. Die Taliban können bereits jetzt schon viele Schulden bei Nachbarstaaten nicht begleichen. Das wirkt sich beispielsweise auf die Stromversorgung im Land aus.
"Klar, wir können jetzt nicht hingehen und sagen: 'Toll gemacht, liebe Taliban, wir unterstützen euch' – aber wir dürfen uns auch nicht einfach aus der Verantwortung für die Menschen in Afghanistan verabschieden."
Grünen-Politiker Erik Marquardt
Die G20-Staaten tun sich allerdings schwer damit, wirtschaftliche Hilfestellungen zu geben. Denn so würde man das Taliban-System unterstützen, was einer Anerkennung der Taliban-Regierung gleichkommen könnte – das will man vermeiden.
Marquardt sieht das kritisch. "Klar, wir können jetzt nicht hingehen und sagen: 'Toll gemacht, liebe Taliban, wir unterstützen euch' – aber wir dürfen uns auch nicht einfach aus der Verantwortung für die Menschen in Afghanistan verabschieden." Marquardt meint, die Taliban fänden andere Wege, um Deals mit – dann eben womöglich autoritären – Staaten zu machen.
Er plädiert also für Verhandlungen. "Um so wenigstens für ein Mindestmaß an Frauenrechten sorgen, oder Kinder in Schulen schicken zu können." Marquardt sagt außerdem: "Wir dürfen die Taliban zwar nicht belohnen, aber wir dürfen auch die Bevölkerung nicht bestrafen. Sie leiden dann doppelt."
Würdigung für Einsatz in Afghanistan
Am Mittwoch haben Bundestag und Bundesregierung den etwa 90 000 in Afghanistan eingesetzten Männern und Frauen der Bundeswehr für ihren jahrelangen Einsatz gedankt. Auf einen Abschlussappell vor dem Verteidigungsministerium folgte vor dem Reichstagsgebäude ein Großer Zapfenstreich als höchstes militärisches Zeremoniell der deutschen Streitkräfte.
Bei dem Gedenkakt vor dem Verteidigungsministerium wurde auch der 59 Soldaten gedacht, die in den vergangenen 20 Jahren in Afghanistan ihr Leben ließen, davon 35 bei Gefechten oder Anschlägen. "Sie haben den höchsten Preis gezahlt, den ein Soldat im Auftrag seines Landes zahlen kann. Wir stehen tief in ihrer Schuld", sagte dort Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der wie auch Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) zu den angetretenen Soldaten und Gästen sprach.
Marquardt sagte dazu im watson-Gespräch, eine Würdigung der Soldatinnen und Soldaten sei grundsätzlich wichtig. "Diese Menschen haben aufgrund von politischen Entscheidungen nicht nur ihr Leben aufs Spiel gesetzt, sondern teilweise auch ihr Leben gegeben. Sie waren in Afghanistan vor Ort und haben Raum geschaffen, um Frauenrechte und Bildungsrechte durchzusetzen. Eine Würdigung haben sie verdient."
Allerdings müsse im Nachhinein auch wieder über politische Fehlentscheidungen gesprochen werden, findet der Grünen-Politiker. "Was lernen wir aus diesem Desaster? Was können wir anders machen? Diese Fragen müssen jetzt auf den Tisch."
(mit dpa)