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SPD-Chefin Esken: "Lindner kracht mit Realität des Koalitionvertrages zusammen"

Die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken steht seit 2019 an der Spitze ihrer Partei.
Die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken steht seit 2019 an der Spitze ihrer Partei.Bild: picture alliance/dpa / Bernd von Jutrczenka
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"Auch Christian Lindner kracht ab und zu mit der Realität des Koalitionsvertrags zusammen"

Saskia Esken ist Co-Vorsitzende der SPD. Im watson-Interview spricht sie über die Probleme, die die Inflation gerade für junge Menschen mit sich bringt. Aber auch über Atomkraft, die keine Option für sie ist und die Rolle von Koalition und Opposition.
13.07.2022, 11:4614.07.2022, 12:31
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watson: Frau Esken, 42 Prozent der Studierenden haben Angst, ihr Studium nicht mehr finanzieren zu können. Das ist das Ergebnis einer Civey-Umfrage. 2020, zum Ausbruch der Corona-Pandemie, waren es 28 Prozent. Wie will die Politik jungen Menschen helfen?

Saskia Esken: Junge Menschen haben gerade zwei Jahre Corona hinter sich – mit großen mentalen und finanziellen Belastungen. Und jetzt schließt sich die Inflation direkt an und sie trifft natürlich jene besonders, die wenig Geld haben. Die BAföG-Novelle wird hier bereits helfen.

Wir haben in einem ersten Schritt die Sätze erhöht und den Kreis derer, die Bafög beantragen können, erweitert. Alle, die eine Ausbildungsförderung erhalten, haben außerdem einen Heizkostenzuschuss von 230 € erhalten.

Nicht alle Studierenden, die von Armut betroffen sind, beziehen BAföG. Noch ist die Förderung nicht elternunabhängig.

Deswegen haben wir die Freibeträge wesentlich angehoben. So können mehr Studierende BAföG beantragen.

"Das ärgert mich als Sozialdemokratin."

Sie hatten gesagt, dass die Schüler und Studierenden nun von einer Krise in die nächste stolpern: Corona, Ukrainekrieg und nebenher schwelt die Klimakrise. Gibt es Bestrebungen, diese Generation zu entschädigen?

Schüler*innen und Studierende müssen bei der Bewältigung dieser Krisen unterstützt werden. Homeschooling und fehlende soziale Kontakte haben zu psychischen Belastungen geführt und auch zu Lernrückständen. Mit dem Corona-Aufholpaket haben wir schon einiges an Unterstützung auf den Weg gebracht, das jungen Menschen hilft.

Darüber hinaus haben wir in diesem Jahr einen Kindergeldbonus von 100 Euro ausgezahlt – auch für Studierende, die noch Kindergeld bekommen. Familien, die Hartz IV oder Kinderzuschlag beziehen, bekommen ab dem 1. Juli jeden Monat 20 Euro zusätzlich zum Kindergeld.

Wichtig ist aber auch, dass die Bildungseinrichtungen unterstützt werden.

Inwiefern?

Es ist wichtig, dass gerade die Unterstützung auf ihrem Bildungsweg erhalten, die besondere Unterstützung benötigen.

Wir haben im Koalitionsvertrag deshalb ein Startchancen-Programm vereinbart, das die Bundesbildungsministerin jetzt vorlegen wird. Schulen, deren Schülerinnen und Schüler besonders benachteiligt sind, sollen besonders unterstützt werden – mit moderner digitaler Ausstattung, aber auch mit Schulsozialarbeit. Das Programm ist ein wichtiger Schritt zu mehr Bildungsgerechtigkeit.

Bis wann soll das Programm vorgelegt werden?

Die Bildungsministerin ist mit den Kultusministern der Länder in Gesprächen. Ich erwarte, dass sie im Herbst die Eckpunkte dafür vorlegt. Dann müssen wir sehen, dass wir zügig die nächsten Schritte gehen. Es kommt mir darauf an, dass wir gerade in der aktuellen Situation zügig helfen.

Saskia Esken (rechts) und Annalena Baerbock (Grüne) bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages.
Saskia Esken (rechts) und Annalena Baerbock (Grüne) bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages.Bild: picture alliance / photothek / Florian Gaertner

Das heißt, wenn Sie alle schnell sind, könnte das Paket im nächsten Schuljahr schon in Kraft treten?

Wir müssen auch sehen, wie wir das finanziert bekommen. Im Koalitionsvertrag haben wir uns zur Unterstützung von armen Kindern und ihren Familien auch die Kindergrundsicherung und die Weiterentwicklung von Hartz IV hin zum Bürgergeld vorgenommen. Das sind ebenfalls wichtige Vorhaben, über deren Finanzierung wir innerhalb der Koalition werden reden müssen.

Nicht nur junge Menschen leben in Armut, sondern 13,4 Millionen Menschen in Deutschland. Die Entlastungen wirken, sie sind aber nur kurzfristige Maßnahmen. Wie kann die Politik der Armut langfristig entgegensteuern?

Das Ziel der Entlastungspakete ist es ja, gerade die Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf möglichst unmittelbar zu entlasten, das ist gelungen. Es gibt aber auch Maßnahmen, die dauerhaft wirken, wie zum Beispiel die Abschaffung der EEG-Umlage, die den Strompreis wesentlich senken wird. Auch bei der Einkommensteuer haben wir dauerhafte Entlastungen vorgenommen.

Welche?

Die Anhebung des Grundfreibetrags und des Arbeitnehmer-Pauschbetrags.

Wobei man ehrlich sein muss: Eine solche steuerliche Entlastung wie über den Freibetrag entlastet die am meisten, die das höchste Einkommen haben, nicht die, die am wenigsten haben. Das ärgert mich als Sozialdemokratin. Ich würde es gerne andersherum sehen.

"Auch Christian Lindner kracht ab und zu mit der Realität des Koalitionsvertrags zusammen."

Aber?

Wir haben Koalitionspartner an Bord, die andere Ziele verfolgen als ich. Man muss aber ganz klar sagen: Der Staat kann nur diejenigen dauerhaft unterstützen, die wirklich in Not sind. Wer ein Erwerbseinkommen hat, der oder die soll sich davon ein ordentliches Leben leisten können. Deswegen haben wir den Mindestlohn auf zwölf Euro erhöht. Was daraus folgen muss und folgen wird, ist eine Anhebung der Tariflöhne.

Auch wenn die Inflation wieder abflacht, bleiben die Preise hoch. Der Wandel hin zum klimaneutralen Wirtschaften wird Geld kosten. Das müssen wir sozial gerecht gestalten. Vor allem muss klar sein, dass die niedrigen und auch die mittleren Einkommen steigen müssen. Die Tarifpartner stehen nun vor dieser Aufgabe.

Ihr Koalitionspartner Christian Lindner (FDP) ist großer Verfechter der Schuldenbremse. Gleichzeitig lehnt er Steuererhöhungen ab. Kracht ihr sozialdemokratisches Herz manchmal mit der Koalition aufeinander?

Auch Christian Lindner kracht ab und zu mit der Realität des Koalitionsvertrags zusammen.

Das ist nun einmal so, wenn sich drei verschiedene Parteien zusammentun. Wir haben viele gute Projekte und Vorhaben miteinander vereinbart, aber am Ende müssen wir uns alle der Realität stellen und die Probleme anpacken, die vorliegen.

Christian Lindner (FDP), Olaf Scholz (SPD), Annalena Baerbock (Buendnis 90 Die Gruenen), Robert Habeck (Buendnis 90 Die Gruenen), Norbert Walter-Borjans (SPD) und Saskia Esken (SPD) (v.l.n.r.) im Rahm ...
Chrstian Lindner (FDP), Olaf Scholz (SPD), Annalena Baerbock (Grüne), Robert Habeck (Grüne), Norbert Walter-Borjans (SPD) und Saskia Esken (SPD) bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags.Bild: PHOTOTHEK / Xander Heinl

Der Krieg in der Ukraine.

Ja – wobei wir durchaus vorhergesehen haben, dass es Schwierigkeiten mit der Energieversorgung geben könnte.

Ja?

Bereits Anfang des Jahres sind Billigstrom-Anbieter in die Knie gegangen. Schon da mussten wir also schauen, wie wir Menschen auffangen, die aus dem Vertrag fallen. Uns war klar, dass wir wieder mehr Kontrolle über die Energieversorgung erlangen müssen. Durch das Gas hat sich das Problem jetzt wesentlich verschärft. Insofern müssen wir immer wieder auf Dinge reagieren, die wir bei der Verhandlung zum Koalitionsvertrag noch nicht vorhersehen konnten.

Mit den Entlastungspaketen zum Beispiel.

Genau. Entlastungsmaßnahmen, die über 30 Milliarden Euro ausmachen. Christian Lindner war als Finanzminister offenkundig bereit, die Mittel dafür aufzutreiben – auch wenn diese Ausgaben nicht im Koalitionsvertrag standen. Im Übrigen ist nicht nur Christian Lindner ein Fan der Schuldenbremse, sondern auch unsere Verfassung. Da ist aber auch festgeschrieben, dass wir die Schuldenbremse in krisenhaften Situationen, auf die der Staat keinen Einfluss hat, aussetzen können.

Wahlkampfabschluss fuer die Bundestagswahl der SPD in Koeln Aktuell, 21.09.2021, Koeln, Lars Klingbeil gemeinsam mit Saskia Esken Bundesvorsitzende der SPD beim offiziellen Wahlkampfabschluss der Sozi ...
Saskia Esken und ihr Co-Vorsitzender Lars Klingbeil.Bild: imago images / Political-Moments

In unsere Verfassung ist nicht nur die Schuldenbremse, sondern mit Artikel 106 auch die Vermögenssteuer festgeschrieben.

So ist es.

Wäre es für Sie eine Option, diese wieder einzuführen?

Für mich ist ganz klar: Die sehr hohen Einkommen und Vermögen müssen einen höheren Beitrag zu unserem Gemeinwesen leisten. Eine Vermögenssteuer sowie eine höhere Steuer auf sehr hohe Einkommen wären in der aktuellen Situation notwendig, um die Aufgaben des Staates zu erfüllen.

Aber...

... es steht nicht im Koalitionsvertrag.

Darüber müssen wir in der Koalition sprechen, denn im Vertrag stehen auch andere Dinge nicht drin, die sich ergeben, weil eben eine Notwendigkeit da ist. In so einer Koalition müssen nicht nur zu Beginn, sondern über die vier Jahre hinweg immer wieder Dinge ausgehandelt werden. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir am Ende zu guten Ergebnissen kommen, die wir gemeinsam tragen können.

"Es ist doch unverantwortlich, mehr von diesem Atommüll zu produzieren, ohne zu wissen, wohin damit."

Wir sind jetzt immer wieder über das Thema Energie gestolpert. Von Markus Söder, aber auch von der FDP wird nun gefordert, die verbliebenen Atommeiler länger laufen zu lassen. Ist das für Sie eine Option?

Ich gehöre zu der Generation, die in den 80er Jahren gegen Atomenergie demonstriert hat. Wir haben uns damals sehr viele Gedanken über mögliche Unfälle wie den in Tschernobyl gemacht, aber auch über die Unmöglichkeit, den auf ewig lebensgefährlich strahlenden Atommüll sicher zu lagern. Bis heute gibt es dafür keine Lösung.

Also sind Sie dagegen?

Es ist doch unverantwortlich, mehr von diesem Atommüll zu produzieren, ohne zu wissen, wohin damit. Wir haben in der rot-grünen Regierung vor 21 Jahren den Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen – gemeinsam mit der Energiewirtschaft.

Schwarz-Gelb, also die Vorgänger von Herrn Merz, Herrn Söder und Herrn Lindner, haben 2010 den Ausstieg von diesem Ausstieg beschlossen, nur um wenig später wieder die Rolle rückwärts zumachen. Sie haben dem Steuerzahler mit diesem Vorgehen milliardenschwere Vertragsstrafen aufgehalst und zudem den Markt der Energiewirtschaft in Deutschland in die Tonne getreten.

Wie meinen Sie das?

Mit dieser Doppelvolte hat Schwarz-Gelb damals den Markt der Erzeugung Erneuerbarer Energien in Deutschland kaputt gemacht. So etwas jetzt noch einmal veranstalten zu wollen, wäre irrsinnig.

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Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU).Bild: imago images / imago images

In den vergangenen acht Jahren war die SPD die Juniorpartnerin in der Großen Koalition mit der Union. Sind Sie manchmal genervt, dass die Unionsfraktion nun so eine krasse Oppositionsarbeit leistet in Bezug auf Entscheidungen, die sie selbst getroffen hat?

Da gibt es wenig Reflexion oder gar Verantwortung für die eigenen Versäumnisse, das stimmt. Grundsätzlich gehören die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition aber zum demokratischen Geschäft – auch solche Neuinterpretationen der Realität.

Herr Merz selbst war in den vergangenen 16 Jahren aber auch nicht aktiv in der Politik und das merkt man an vielen seiner Aussagen. Offensichtlich hat er manches nicht mitbekommen, was seine CDU/CSU dort in der Regierung führend getan hat.

Verfolgt haben sollte er das ja schon.

Vielleicht war er mit anderen Dingen beschäftigt.

"Gerade in der aktuellen Weltlage müssen wir damit rechnen, dass unerwartete Entwicklungen auftreten, auf die wir reagieren müssen."

Was macht Ihnen in der aktuellen Zeit Hoffnung?

Dass wir mit Olaf Scholz einen Bundeskanzler haben, der sozialdemokratische Grundhaltungen in alles einfließen lässt, was er tut. Der an die denkt, die nicht vom Schicksal bevorteilt sind und die eine Lobby in der Politik brauchen. Auch ist ihm sehr bewusst, dass die meisten Probleme nicht nationalstaatlich gelöst werden können, sondern in der europäischen und internationalen Gemeinschaft. Es beruhigt mich, dass dieser Mann unser Land lenkt und mit anderen zu guten Lösungen kommt.

Ich bin unten im Foyer des Willy-Brandt-Hauses auf die SPD-Reisebroschüre gestoßen. Diese Woche startet der Bundestag in die sitzungsfreie Zeit: Planen Sie eine Reise, Frau Esken?

Auch über den Sommer wird in der Regierung und im Parlament gearbeitet, auch wenn es keine Sitzungswochen gibt. Gerade in der aktuellen Weltlage müssen wir damit rechnen, dass unerwartete Entwicklungen auftreten, auf die wir reagieren müssen. Ich werde also nicht weit wegfahren. Ich habe eine Woche an der Ostsee gebucht und freue mich sehr darauf.

Mal sehen, ob ich ihn auch antreten kann.

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