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Gastbeitrag

Jette Nietzard: Grünen-Politikerin macht deutsches Recht fassungslos

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Recht fuße in Deutschland "auf Rassismus, dem Patriarchat und Kapitalismus", schreibt Jette Nietzard.Bild: dpa / Michael Kappeler
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Rechtsprechung in Deutschland funktioniert im Zweifel für die Reichen – und das ist ein Problem

Jette Nietzard eckt oft an und das weiß sie auch. In der Politik sagt die Grünen-Politikerin ihre Meinung genauso deutlich wie auf Social Media. Hier kritisiert sie, wie in Deutschland Recht gesprochen wird – und erklärt, warum das nicht so sein müsste.
10.10.2025, 07:5210.10.2025, 07:52
Jette Nietzard<br>

Containern ist illegal und Hundesohn zu sagen, beleidigt Menschen in ihrer Ehre. Homosexuelle Handlungen sind auch erst seit 1994 legal. Fahren ohne Fahrschein kann dich (als Ersatzfreiheitsstrafe) in den Knast bringen, leerstehende Häuser besetzen ist laut Gesetz Hausfriedensbruch und Schwangerschaftsabbrüche finden sich übrigens im gleichen Gesetzbuch (dem Strafgesetzbuch).

Ich bin keine Juristin. Aber ich kann darüber nur den Kopf schütteln. Oder darüber, wenn ein Vergewaltiger Bewährung bekommt, weil der arme Junge sonst seinen Beamtenstatus verlieren könnte. Der Fall des verurteilten Feuerwehrmanns sorgte Anfang des Jahres für Diskussionen.

Gleichzeitig müssen Menschen, die sich auf eine Straße geklebt haben für fast zwei Jahre ins Gefängnis.

Ich frage mich angesichts dieser Beispiele: Warum ist das Recht in Deutschland eigentlich so, wie es ist? Es fällt ja nicht einfach vom Baum, sondern ist politisch bestimmt, historisch gewachsen und vor Gericht oft Auslegungssache.

Der bürgerliche Staat, also die rechtsstaatliche Ordnung, die wir heute kennen, ist maßgeblich entstanden, um Eigentum zu schützen und Machtbeziehungen zu kontrollieren. Recht vermittelt dabei einen Eindruck von Gerechtigkeit, den es so aber gar nicht gibt: Schließlich stabilisiert das aktuelle Recht eher Ungleichheit.

Damals und heute wird Eigentum als Grundlage der Ordnung betrachtet. Dass dieses Eigentum aber historisch durch Enteignung (zum Beispiel jüdischer Besitz durch die Nazis), Gewalt (zum Beispiel Kolonialismus oder Ausbeutung von Arbeiter:innen) und Klassenverhältnisse (zum Beispiel Erbschaften) entstanden sein kann, wird heute zu oft verschleiert – und stabilisiert so die bestehenden Verhältnisse.

Recht in Deutschland: eine Frage des Eigentums

Eigentum verpflichtet schließlich. Wozu genau? Darauf hat man sich irgendwie nie geeinigt.

Wie stark würden doch unsere Gerichte entlastet, wenn der ÖPNV in Deutschland kostenlos wäre oder alle Menschen in Deutschland – egal ob geflüchtet, obdachlos, Autofahrer:in, mit bestehendem Abo oder minderjährig – ein Ticket bekämen. Monheim am Rhein, Augsburg oder Luxemburg machen es vor: Dann müssten Menschen nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden, nur weil sie sich Mobilität nicht leisten können. Nicht nur die Gerichte würden aufatmen, sondern auch die Umwelt.

Oder wenn Sozialsysteme nicht in einem 'Herbst der Reformen' weiter gekürzt, sondern ausfinanziert wären, sodass niemand in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt in Armut leben müsste.

Wir tun so, als wäre dieses System gottgegeben, aber das ist es verdammt nochmal nicht!

"Grundsätzlich klagen Supermarkt-Ketten, nur netterweise nicht gegen mich."

Neben Armut spielen natürlich auch andere Kategorien und Vorurteile eine Rolle. Ich geb's zu – ich hab' auch schon geklaut. Nicht weil ich musste, sondern einmal aus Versehen, einmal weil ich nur die Sticker, aber nicht das ganze Magazin bezahlen wollte, und ab und an, weil ich an der Selbstbedienungskasse im Supermarkt nicht alle Artikel eingescannt hatte.

Noch nie hat mich das in Schwierigkeiten gebracht. Einmal fragte der Sicherheitsmensch ganz freundlich, ob ich nicht noch bezahlen wolle.

Das, meine lieben Leser:innen, nennt sich Privilegien haben. Als weiße, junge Frau erwarten Menschen von mir nicht, dass ich klaue – sie erwarten es von Menschen, die sie aus rassistischer oder klassistischer Motivation als ärmer oder gefährlicher einordnen.

Zweierlei Maß im Rechtssystem Deutschland

Wo kein Kläger, da kein Richter. Grundsätzlich klagen Supermarktketten, nur netterweise nicht gegen mich. Die Anwaltskosten sind oft zwar höher als der Warenwert, aber das ist wohl eine Prinzipiensache.

Anders bei Vergewaltigungen: Hier wird laut Statistik nur eine von zehn angezeigt, weil die psychischen und materiellen Belastungen für die Betroffenen sehr hoch sind. Vergewaltiger kommen also in mehr als 90 Prozent der Fälle ungestraft davon.

An anderer Stelle scheint man hingegen oft nicht hinterherzukommen mit den Klagen: In Bamberg wurden 2017 Neonazis freigelassen, weil das Gericht überlastet war und die Fälle von Kindesmissbrauch häufen sich auch, ohne dass es zu Verurteilungen kommt.

Und wenn du ein wichtiges Business in Deutschland hast, kannst du dich auch einfach mit der Staatsanwaltschaft einigen, einen Beitrag in die Staatskassen zahlen und bist fein raus. Wessen Freiheit schützt unser Recht also?

"Wenn wir so tun, als wäre das (Straf-)Recht neutral, belügen wir uns selbst."

Ich würde mich in Deutschland deutlich sicherer fühlen, wenn 1000 untergetauchte Neonazis ihre Taten im Gefängnis reflektieren müssten. Gleichzeitig bedroht es meine Sicherheit gar nicht, ob Lidl drei Bohnenkonserven mehr oder weniger im Regal hat. Und to be honest: die Sicherheit des Landes oder des Ladens auch nicht.

Diese Priorisierungen und Widersprüche werfen für mich die Frage auf, wie unabhängig unser Recht tatsächlich ist. Zwar heißt es, die Justiz sei die dritte Säule unserer Demokratie – aber wenn strukturelle Überlastung, politische Deals oder ökonomische Interessen so stark hineinspielen, wird klar: Wenn wir so tun, als wäre das (Straf-)Recht neutral, belügen wir uns selbst.

Das Recht ist Teil einer strukturellen Ordnung, die auf Rassismus, dem Patriarchat und Kapitalismus fußt. Was strafbar ist, wird auch auf Grundlage dieser gesellschaftlichen Ordnungsmuster entschieden. Wäre das Recht wirklich neutral, müsste die CDU ja keine Verfassungsrichterin verhindern, weil sie in ihren Augen diese Ordnungsmuster zu sehr hinterfragt.

Wenn Recht heute vor allem Eigentum schützt und Armut bestraft, dann liegt es an uns, die Regeln neu zu schreiben – für eine Justiz und Politik, die Menschen schützt, statt Macht und Besitz zu sichern.

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