Michael Roth über den Kampf um die Ukraine, die SPD – und die eigene Psyche
In "Zonen der Angst", das seit dem 18. September erhältlich ist, erklärt Roth, wie er jahrelang für ein starkes Europa und eine freie Ukraine kämpfte. Dabei wuchs der Widerstand in der SPD gegen seine entschiedene Ukraine-Politik. Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich verweigerte ihm demnach ab einem gewissen Zeitpunkt gar die Begrüßung.
Angstzustände bestimmten Roths Leben zuletzt immer mehr, bis er entschied, nicht mehr bei der Bundestagswahl 2025 anzutreten.
Im Gespräch mit watson erklärt Roth, wie er heute auf die Ukraine, seine eigene Partei und die Gefahr psychischer Erkrankungen in der Politik blickt.
watson: Herr Roth, Sie haben 2022 Ihre psychische Erkrankung öffentlich gemacht. Welche Reaktionen haben Sie damals am meisten überrascht?
Michael Roth: Ich wurde von der Verkäuferin in meiner Bäckerei angesprochen, Lehrerinnen schrieben mir Mails, Menschen, die ich schon lange kenne und denen ich das gar nicht zugetraut hätte, wendeten sich an mich und sagten: "Gut, dass du es sagst. Dass du den Mut hast, darüber öffentlich zu sprechen." Klar ist: Wir müssen psychische Erkrankungen endlich aus der Schmuddelecke herausholen.
Sorgen Sie sich um kommende Generationen an jungen Politiker:innen, deren Job etwa durch Social Media immer umfangreicher wird?
Ich sorge mich um unsere liberale Demokratie, weil wir hoch engagierte, kluge und empathische Persönlichkeiten in der Politik dringend brauchen. Früher hat man öfter mal Zeit für Muße und Entspannung gefunden, der Blick schweifte immer wieder mal nach draußen in die Natur. Heute geht der Blick nur nach unten, aufs iPad oder Smartphone. Die digitale Welt ist rasend schnell. Da haben es Politiker:innen, die erstmal nachdenken, die reflektieren, ziemlich schwer.
Im Buch erwähnen Sie etwa, wie Sie mal vorschnell Aktivist:innen der Letzten Generation bei der Farbattacke auf das Grundgesetz-Denkmal nahe dem Bundestag mit den Taliban verglichen.
Man verlangt von uns schnelle, pointierte Botschaften. Das kann unter Stress auch mal schiefgehen. Es gibt leider in unserem Land keine Kultur der Nachsicht und des Verzeihens. Das belastet immens. Ich möchte nicht, dass man allen Politiker:innen zuruft: Du musst dir ein Herz aus Stein und ein dickes Fell wachsen lassen, sonst überstehst du das nicht.
Was muss sich ändern, damit sich in Zukunft nicht Scharen – vor allem junger – Politiker:innen verbrannt zurückziehen?
Wir brauchen als Gesellschaft wieder mehr Respekt, Menschlichkeit und Nachsicht. Zudem sollten wir uns nicht alle von diesem Tempo versklaven lassen. Politiker:innen müssen viel arbeiten und präsent sein. Wir brauchen aber auch Zeit für ein gutes Buch, einen Film, Spaß mit Familie und Freunden. Das muss legitim sein und fest eingeplant werden.
Nerven hat Ihnen in den vergangenen Jahren vor allem Ihr parlamentarischer Kampf für die Ukraine und die Verteidigung gegen Russland gekostet. Sind Sie heute entspannter, weil endlich über Frieden verhandelt wird?
Wir reden ständig über den Frieden, aber sind ihm keinen Millimeter näher gekommen. Nach wie vor gibt das imperialistische Russland das mörderische Tempo vor. Auch während Verhandlungen laufen, werden Zivilist:innen in der Ukraine von russischen Raketen ermordet. Das macht mich sehr traurig. Um diesen Krieg dem Frieden näherzubringen, muss man die Ukraine noch besser ertüchtigen und Putin endlich ein Stoppschild aufstellen, damit er hoffentlich bald erkennt: Er kann diesen Krieg zu seinen Bedingungen nicht gewinnen.
Wie hat sich die deutsche Unterstützung in Politik und Gesellschaft für die Ukraine bis heute entwickelt?
Ich finde es beachtlich, wie viele Menschen nach wie vor verstehen, warum wir die Ukraine weiter unterstützen müssen. Die Zahl derjenigen, die müde geworden sind und sagen, es muss doch jetzt endlich mal Schluss sein, ist aber sicherlich gestiegen. Und das kann ich auch gut verstehen.
Wieso?
Bisher hat die Politik es nicht gut genug vermocht zu erklären, dass in der Ukraine auch Europas und Deutschlands Überleben verteidigt wird. Russland führt einen Krieg gegen Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie in Europa. Es schert sich nicht um Ultimaten von Trump oder der Europäer. Das Morden in der Ukraine geht immer weiter. Da darf die Antwort Deutschlands und des Westens nicht sein: Wir müssen uns zurückhalten, weil Putin möglicherweise die Atombombe auch gegen uns richtet. Der Diktator im Kreml riecht doch unseren Angstschweiß. Aber Politik aus Angst und Politik mit der Angst ist ein Irrweg, sie führt in den Abgrund.
Wie bewerten Sie die Ukraine-Politik des neuen Bundeskanzlers?
Friedrich Merz hat viel richtig gemacht. Was ich ihm hoch anrechne, ist, dass er versucht, im Team Europa für mehr Zusammenhalt zu sorgen. Ich fürchte aber, dass es nicht reicht, Donald Trump Honig um den Bart zu schmieren. Am Ende ist es viel wichtiger, unsere eigene Verteidigungsfähigkeit rascher hochzufahren, damit wir unser Land und Europa wehrhafter machen. Leider hat Merz seinen eigenen vollmundigen Ankündigungen bei der Lieferung von Taurus-Raketen keine Taten folgen lassen.
Welche Rolle muss die SPD in der Ukraine-Politik finden?
Die SPD muss als Partei des Friedens und der Freiheit aufseiten der Menschenrechte stehen. Diese werden in der Ukraine von Russland massiv gebrochen, aber auch weltweit durch China, Nordkorea, Iran, durch autoritäre Populist:innen. Es gibt eine wachsende Sehnsucht nach schnellen und einfachen Lösungen, nach Disruption und Kettensäge. Dem muss sich die Sozialdemokratie entgegenstellen. Die liberale Demokratie ist in der Defensive und es ist nicht ausgemacht, ob sie am Ende überleben wird.
Macht Ihnen das Angst?
Angst zu haben, ist ganz normal. Aber sie darf uns nicht lähmen, sondern muss uns motivieren und antreiben. Ich fürchte, dass die Lauten, Wütenden und Autoritären weiter an Einfluss gewinnen, und sich sensible Menschen, die sich respektvoll verhalten und sich Fakten verpflichtet fühlen, angesichts der Weltlage ins Private zurückziehen. Aber so überlebt unsere Demokratie nicht. Wir brauchen Bürger:innen, die sich weiter einbringen.
Was würden Sie speziell Ihrer SPD raten, mit der Sie in den vergangenen Jahren so oft im Clinch waren?
Wir müssen wieder auf die Höhe der Zeit kommen, mit neuen Ideen auf uns aufmerksam machen, auch wenn wir anfangs auf Widerstände stoßen. Wir wirken verunsichert und ausgelaugt. Nur ein Beispiel: Wenn man ein angegriffenes Land unterstützt wie die Ukraine, steht man für sozialdemokratische Werte ein. Das hat mit Militarismus nichts zu tun, aber ganz viel mit einem gerechten Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung. Und wir müssen die Widersprüche unserer Zeit aussprechen und uns ihnen stellen. Mit den von uns gelieferten Waffen kommen Menschen zu Tode. Aber wenn wir die Menschen in der Ukraine schutzlos der russischen Kriegsmaschinerie überlassen, sterben noch viel mehr Menschen. Vor allem für eine progressive Volkspartei wie die SPD ist es überlebenswichtig, den Menschen empathisch, nicht technokratisch, zu begegnen.
Wer macht Ihnen in der SPD derzeit Hoffnung auf bessere Zeiten?
Diejenigen, die vor Ort ehrenamtlich Politik betreiben, die sich aber genauso wie Berufspolitiker:innen wüst beschimpfen lassen müssen, die bedroht werden und trotzdem sagen: Wir weichen nicht gegenüber nationalistischen Populist:innen, Wutbürger:innen, den Demokratieverächter:innen und Lügner:innen zurück. Das sind meine Heroes.