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Gastbeitrag

Jette Nietzard: Gastbeitrag über Rassismus und den Fall Lorenz A.

Jette Nietzard
Jette Nietzard schreibt bei watson über Rassismus.Bild: Privat / Grüne Jugend
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Rassismus in Deutschland: "Wie sicher würdest du dich fühlen, wenn der Staat dich töten könnte?"

Jette Nietzard sagt in der Politik ihre Meinung genauso deutlich wie auf Social Media. Hier schreibt die Co-Chefin der Grünen Jugend über Rassismus und ihre Wut über den Fall Lorenz A. Der 21-Jährige aus Oldenburg starb Ende April, nachdem ein Polizist fünfmal auf ihn geschossen hatte.
15.05.2025, 08:1015.05.2025, 08:10
Jette Nietzard
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Ich würde gerne mit dir über Rassismus reden. Dabei meine ich nicht einmal "Ausländer raus"-Parolen aus Popsongs. Ich meine nicht die Beschimpfungen, die sich asiatisch gelesene Menschen anhören mussten, weil Menschen sie für die Corona-Pandemie verantwortlich gemacht haben. Und ich meine auch nicht deinen Onkel, der ignorant ist und auch nach der dritten Erklärung weiterhin das N-Wort sagt.

Lass uns lieber über strukturelle Machtverhältnisse reden. Was ich damit meine? Die Polizei, die im Bahnwaggon nur nicht-weiße Menschen nach ihren Papieren fragt. Die Politik, die für Lorenz keinen Innenausschuss einberuft. Oder uns alle, die wir Spargel essen und unsere Großeltern pflegen lassen, aber bei den Arbeitsbedingungen der dafür verantwortlichen Menschen lieber kollektiv wegschauen.

Rassismus ist keine Sammlung von tragischen Einzelfällen, sondern ein strukturelles System der Unterdrückung, von dem ich profitiere. Von dem du wahrscheinlich profitierst. Von dem alle profitieren, die Macht in dieser Gesellschaft haben. Und je mehr Macht du hast, desto mehr profitierst du.

Strukturelle Probleme lösen wir nicht, wenn wir so tun, als wären sie individuelle Probleme, die sich durch das Canceln einzelner Leute klären lassen. Und zu behaupten, das Problem liege an Rechtsextremen und der AfD, wäre auch zu kurz gegriffen und befreit mich und dich von der Verantwortung, die wir ohne Zweifel tragen.

Nicht nur die AfD legitimiert in der deutschen Politik Rassismus

"Rassismus wirkt nicht nur dort, wo er offen als Ideologie auftritt, sondern auch dort, wo er institutionell normalisiert, bürokratisch codiert und kulturell legitimiert ist", sagte schon Cihan Sinanoglu, Leiter des Nationalen Rassismusmonitors. Und nicht nur die AfD legitimiert ihn eben, sondern auch die CDU und SPD, wenn sie sich über Abschiebepläne im TV batteln, oder eben die Grünen, wenn sie sagen, dass Zuwanderung eine Zumutung ist.

Staatliche Institutionen sollten Menschen eigentlich schützen. Aber wie sicher würdest du dich fühlen, wenn nach deinem nächsten Streit in der Disco der Staat dich töten könnte? Eine Frage, die ich als weiße Person mir ehrlich gesagt noch nie gestellt habe, weil mein Discobesuch nicht damit beendet wird, dass die Polizei mich erschießt. Anders als Lorenz, der am Ostersonntag in Oldenburg von einem Polizisten niedergeschossen wurde.

"Die Medien haben es in vielen Fällen geschafft, in den letzten Jahren ein Bild von Angst und Schrecken vor migrantisierten Männern zu zeichnen."

Und wenn ich im psychischen Ausnahmezustand bin, würde ich wohl auch nicht erschossen werden wie Mouhamed Lamine Dramé. Der damals 16-Jährige starb 2022 bei einem Polizeieinsatz in Dortmund.

Auf wen sollen sich migrantisierte Menschen nach solchen Vorfällen noch verlassen können?

Die Medien haben es in vielen Fällen geschafft, in den letzten Jahren ein Bild von Angst und Schrecken vor migrantisierten Männern zu zeichnen. Man könnte fast davon ausgehen, dass ich – jung, blond und Sozialarbeiterin – schon mehrfach von dieser Horde junger Männer vergewaltigt worden wäre. Schließlich bin ich alleine mit zehn von ihnen, wenn ich zu einer Nachtschicht an meinem Arbeitsplatz in der Geflüchtetenunterkunft komme. Liest man heute Zeitung, scheint es oft so, als seien migrantisierte Männer das größte Übel für die Bundesrepublik – gewalttätig, kulturlos, frauenverachtend. Spoiler: Es ist nicht so!

Dass die Bibel jetzt auch nicht gerade die Herrschaft der Frauen ausruft, dass Kultur kein eindimensionaler Begriff ist, über den Deutsche die einzige Deutungshoheit haben, und dass selbst die polizeiliche Kriminalstatistik diese Vorwürfe nicht stützt, spielt dabei keine Rolle. Kulturelle Kämpfe werden selten auf der Basis von Fakten ausgetragen. Wer auf dem Schulhof, aber auch in der Gesellschaft ausgegrenzt wird, darüber entscheiden keine Fakten. Rassismus entsteht nicht durch objektive Daten und Studien, sondern durch bestehende Machtverhältnisse und gewollte Agitation.

Wenn du an "Ausländer" denkst, dann denkst du wahrscheinlich nur an Geflüchtete. Denn die Vielfalt der migrantisierten Menschen in Deutschland ist den meisten Menschen einfach egal.

Dass Geflüchtete nur 20 Prozent der Migration nach Deutschland ausmachen, bildet sich in der medialen Debatte nicht ab. Dass Menschen mit vietnamesischer Familiengeschichte einerseits mal als Arbeitskräfte in die DDR kamen, aber auch als sogenannte "Boatpeople" vor dem kommunistischen Regime flohen, wird ignoriert.

Fehler bei der Integration: bewusst geschaffene Parallelgesellschaft

Wie erklärt man den Begriff "Wirtschaftsflüchtlinge", wenn Gastarbeiter:innen die Prosperität in Westdeutschland erst ermöglicht haben?

Man wollte und brauchte ab 1960 die "Wirtschaftsflüchtlinge", aber von damals bis heute wurde bewusst verhindert, dass sie am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben. Sie sollten die Sprache nicht lernen – und heute beschweren sich Menschen, dass sie die Sprache nicht sprechen. Sie sollten abgeschieden wohnen – und heute beschweren sich Menschen über das "Ghetto-Viertel".

Dabei waren wir es doch, die bewusst eine Parallelgesellschaft geschaffen haben. Menschen haben sich kaputt gearbeitet, um heute in Altersarmut zu leben und abends mit Angst ins Bett gehen, weil sie wissen, dass ihre Enkel nachts bei einer Polizeikontrolle sterben könnten.

Ich schreibe diesen Text auch, weil es mir um die Sicherheit der 18.000 Schulkinder geht, die Mitte April in Duisburg nicht zur Schule gehen konnten, weil Rechtsextreme sie bedroht haben. In Duisburg gehen viele Kinder zur Schule, die Nachfahren eben dieser Gastarbeiter:innen sind. Deren Eltern auch nach Deutschland kamen, damit es ihren Kindern einmal besser geht. Doch dieses Aufstiegsversprechen ist eine große Lüge.

"Antirassistische und soziale Politik kann hier einen entscheidenden Unterschied machen."

Ein sozialer Aufstieg ist in Deutschland kaum mehr möglich – dieser Zustand wurde absichtlich geschaffen, um Verhältnisse zu festigen.

Rassismus führt in Deutschland zu sozialer Ungleichheit, die sich auf den Geldbeutel und dadurch auch die Möglichkeiten migrantisierter Kinder auswirkt.

Antirassistische und soziale Politik kann hier einen entscheidenden Unterschied machen. Mit höheren Löhnen, damit Menschen nach Jahrzehnten am Fließband nicht in Altersarmut leben müssen. Mit einer Aufwertung von Wohnvierteln, damit gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht wird und der Wohnort nicht weiter die Gesundheit beeinflusst. Mit finanzieller Umverteilung, damit alle von wirtschaftlichem Reichtum profitieren. Damit könnten Schulen saniert oder günstige Mobilität ermöglicht werden.

Und es zeigt sich, dass wir als weiße Menschen und migrantisierte Menschen eigentlich einen gemeinsamen Kampf kämpfen. Denn diese Zementierung von sozialer Ungleichheit hilft eben jenen, die auch jetzt schon Macht haben. Statt uns gegenseitig zu bekämpfen, um im aktuellen System ein bisschen besser dazustehen, müssen wir gemeinsam gegen die bisherigen Machtverhältnisse ankämpfen.

Damit bin ich am Ende meiner Worte, aber die Wahrheit ist: Das alles ist mir nicht einfach so eingefallen. Das habe ich nicht in Schule, Studium oder Talkshows gelernt, wo wir es gewohnt sind, vor allem weiße Stimmen zu hören. Es sind migrantisierte Stimmen, denen ich dieses Wissen zu verdanken habe: den Autorinnen Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah, der Aktivistin Hami Nguyen, Musikerin Reyhan Şahin (aka. Lady Bitch Ray), der Sozialwissenschaftlerin Bafta Sarbo, Rapperin Nura, Journalistin Eleonora Roldán Mendívil und so vielen weitere. Und ich finde es wichtig, dass wir ihr Wissen wertschätzen und zur Sichtbarkeit beitragen.

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