In den vergangenen Wochen wurde so viel über politische Inhalte auf Tiktok berichtet wie noch nie. Der Anlass: Millionen Menschen sehen die Videos von Rechten, Hetzern und Verschwörungsideologen. So erreicht Maximilian Krah, AfD-Spitzenkandidat zur Europawahl, Aufrufzahlen im Millionenbereich. Gleichzeitig nimmt die Debatte rund um eine Sperre von Tiktok in den USA an Fahrt auf. Und Kanzler Scholz? Auch den können die Bürger:innen jetzt im Kurzvideoformat verfolgen.
Mit seiner Entscheidung, sich einen Account bei der chinesischen Kurzvideo-App zu erstellen, ist der Kanzler aber lange nicht allein. Immer mehr Politiker:innen haben den Schritt in jüngster Vergangenheit gewagt. Den Grund für die plötzliche "Tiktok-Offensive" benennen sie dabei überraschend deutlich: den Erfolg der AfD.
So sagt Gesundheitsminister Lauterbach, der vor ein paar Wochen mit seiner Anmeldung auf der App für Schlagzeilen sorgte, in einem Interview mit "T-Online", man dürfe "(...) einflussreiche soziale Medien nicht der AfD überlassen."
Das ist zwar lobenswert, wird den Kern des Problems aber nicht lösen. Denn der Erfolg der AfD kam nicht unvorhersehbar, er kam nicht über Nacht und Expert:innen haben ihn schon lange vorausgesagt – die demokratischen Parteien haben ihn allerdings bisher ignoriert.
In der Berichterstattung rund um den Erfolg der AfD auf Tiktok wird sich häufig an der Frage abgearbeitet, was die Partei denn so erfolgreich macht. Die Antworten sind vielfältig: Ein breites Netzwerk an rechten Drittaccounts, die Inhalte fleißig teilen und so als Multiplikator wirken. Der populistische Ton, der besonders in Kurzvideos gut wirkt. Junge Frauen, die als rechte Influencerinnen in einem ruhigen Ton erklären, warum die AfD die einzige Lösung für Deutschland sei.
All diese Antworten haben ihre Berechtigung. Jedoch wird eines in dieser Aufzählung häufig vergessen: Der Fakt, dass die AfD viel früher als die demokratischen Parteien strategisch auf Tiktok kommuniziert hat.
Politikberater:innen warnen schon lange vor einem Erstarken rechter Kräfte auf der Plattform. Bereits im August 2021 hat Martin Fuchs, einer der führenden Tiktok-Experten Deutschlands, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk gesagt, dass es Indizien dafür gibt, dass die AfD versucht, auf der Plattform "irgendwie große Reichweiten zu erzielen".
Warum haben die anderen Parteien trotzdem so lange gebraucht, um die Gefahr zu erkennen und als demokratisches Gegengewicht auf die Plattform zu gehen?
Es ist natürlich erfreulich, dass die demokratischen Parteien jetzt – im Jahr 2024 – endlich den Schritt auf Tiktok wagen. Es offenbart aber auch eine ganz entscheidende Schwachstelle: Sie sind zu spät dran.
Während sich die AfD nicht zu schade war, auf der Kurzvideoplattform zu kommunizieren, war die App in den demokratischen Parteien vor allem ein Streitthema. Ob SPD, CDU, Grüne, FDP oder Linke: Ihre politischen Kommunikator:innen berichten allesamt, von erheblicher Skepsis oder gänzlicher Ablehnung gegenüber Tiktok:
Es gibt viele gute Gründe für politische Kommunikation auf Tiktok – aber auch viele dagegen. Datenschutzrechtliche Bedenken sind nicht abzustreiten. Wenn die demokratischen Parteien vor diesem Hintergrund frühzeitig und einheitlich eine Entscheidung gegen Tiktok getroffen hätten, könnte man darüber hinwegblicken – sie haben aber schlichtweg gar keine getroffen, sondern das Thema über Jahre liegen lassen.
Für demokratische Parteien sind junge Menschen noch immer nicht die Priorität, die sie sein sollten. Wären sie das gewesen, hätten die Parteien bereits zwischen 2021 und 2022 gemerkt, wie relevant die App im Leben vieler junger Menschen ist – und hätten die Plattform entsprechend in ihre Kommunikationsstrategie integriert.
Hört man sich im politischen Berlin zu Tiktok um, klingt vor allem eine ganze Menge Frustration bei jungen politischen Kommunikator:innen raus. "Dass dieser Grad der Emotionalisierung auf den sozialen Medien funktioniert, das wissen wir ja nicht erst seit Tiktok. (...) Das ist kein Trend, der überraschen muss", fasst Djego Finkenstedt zusammen, der beruflich als Pressesprecher der Grünen Jugend tätig ist.
Jonas Bayer, ehemaliger Polit-Influencer auf Tiktok und heute Social-Media-Manager von Christian Lindner, erzählt mir, dass die Kommunikation auf der Plattform lange Zeit schlichtweg auf den Schultern der Parteijunior:innen abgelegt wurde: "Es kann nicht sein, dass drei JuLis aus ihren Kinderzimmern hohe Aufrufzahlen generieren, während die Parteien die Plattform liegen lassen", resümiert er.
Nina Weise, Head of Social Media bei der Jungen Union, appelliert: "Ich wünsche mir Mut zu mehr Inhalten". Vor allem Politiker:innen sind verpflichtet, sich auf Tiktok nicht nur auf lockere Inhalte zu verlassen, sondern politische Themen angemessen aufzuarbeiten und zu kommunizieren.
Häufig heißt es, dass die AfD Tiktok verstanden habe. Das ist zwar richtig, es ist aber nicht die ganze Wahrheit. Zu dem Problem gehört auch, dass die AfD deutlich schneller und agiler kommuniziert, als es die demokratischen Parteien tun. Sie haben früher hohe Aufrufzahlen auf Tiktok generiert, weil sie früher als alle anderen Parteien den kommunikativen Wert der Plattform erkannt haben – und ihre Kommunikationsstrategie entsprechend angepasst.
Die Mühlen in den demokratischen Parteien mahlen dafür häufig noch zu langsam. Es vergehen Jahre, in denen sie darauf warten, dass eine Plattform als seriös gilt oder die politischen Verhältnisse darauf ungünstig genug sind, bis sie endlich anfangen, dort auch selbst präsent zu sein.
Ich bin Optimistin: Ich glaube, dass sich politische Mehrheitsverhältnisse auch im digitalen Raum wandeln und ein demokratischer Diskurs wiederhergestellt werden kann. Doch während die demokratischen Parteien um Aufrufzahlen kämpfen, darf es nicht passieren, dass sich ein solcher strategischer Fehler wie bei Tiktok wiederholt.
Den Parteien muss bewusst sein, dass digitale Plattformen einem stetigen Wandel unterliegen. Genauso wie Facebook seinen Höhepunkt an Popularität unter jungen Menschen in Deutschland hatte, wird ihn Tiktok irgendwann gehabt haben. Dann wird eine neue Plattform den Markt betreten und das Rennen um Aufrufe, Kommentare und Likes geht von vorne los. Gewinnen wird, wer sich am schnellsten und klügsten auf die neuen plattformspezifischen Zielgruppen, Herausforderungen und Chancen einstellt
Sich reaktiv von dem politischen Gegner treiben zu lassen, ohne die notwendige Strategie oder Weitsicht, wird die demokratischen Parteien auch dann nicht ins Ziel bringen. Ich wünsche mir demokratische Parteien, die taktisch, dynamisch und modern kommunizieren. Sie müssen langfristig denken und reflektiert handeln. Politische Kommunikation ist ein Marathon, kein Sprint.