Afghanistans Hauptstadt Kabul steht vor dem Fall an die radikalislamischen Taliban. Am Sonntag rückten die Islamisten bis an den Stadtrand von Kabul vor. Afghanistans Innenminister Abdul Sattar Mirsakwal kündigte eine "friedliche Machtübergabe" an eine "Übergangsregierung" an. Westliche Staaten arbeiteten unter Hochdruck an der Rückführung ihres zivilen Personals aus Afghanistan. Russland kündigte eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats zur Lage in Afghanistan an.
Ein Taliban-Sprecher schrieb im Onlinedienst Twitter, die Kämpfer der Miliz hätten Anweisung, an den Stadttoren von Kabul Halt zu machen und nicht in die Stadt vorzudringen. Bewohner von Außenbezirken Kabuls sagten der Nachrichtenagentur AFP jedoch, Taliban-Kämpfer seien bereits im Stadtgebiet. "Es gibt bewaffnete Taliban-Kämpfer in unserer Nachbarschaft, aber es wird nicht gekämpft", sagte ein Bewohner eines östlichen Vororts der Hauptstadt.
Innenminister Mirsakwal sagte in einer aufgezeichneten Rede, die Bevölkerung solle sich "keine Sorgen" machen: "Es wird keinen Angriff auf die Stadt geben." Auch der Stabschef von Präsident Aschraf Ghani, Matin Bek, schrieb im Onlinedienst Twitter: "Keine Panik! Kabul ist sicher."
Noch am Samstag hatte Präsident Aschraf Ghani in einer Rede an die Nation von einer "Remobilisierung" der afghanischen Streitkräfte gesprochen. Zugleich sprach er von einer möglichen "politischen Lösung" in dem Konflikt. Der Kabuler Experte Sajed Naser Mosawi hatte Ghanis Äußerung als Bereitschaft zur Kapitulation gewertet. Die Botschaft des Präsidenten klinge nicht als sei er bereit, "bis zum Ende zu kämpfen", sagte er.
Die Islamisten hatten in den vergangenen Tagen eine afghanische Stadt nach der anderen oft kampflos eingenommen, zuletzt auch das strategisch wichtige Dschalalabad im Osten und den früheren Bundeswehr-Standort Masar-i-Scharif im Norden. Kabul war damit die letzte noch verbliebene Bastion der Regierungstruppen.
In Taliban-nahen Online-Netzwerken verbreiteten Nutzer Videos, in denen oft junge und schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer bei der Einnahme von Städten zu sehen waren. Aus Masar-i-Scharif berichtete der Bewohner Atikullah Ghayor, die Islamisten hätten eine Parade auf ihren Fahrzeugen veranstaltet und zum Zeichen des Sieges Schüsse in die Luft abgefeuert.
Die Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches seit dem Beginn des Abzugs der Nato-Truppen im Mai sorgte international für Fassungslosigkeit. Unter Hochdruck arbeiten westliche Staaten, darunter Deutschland, derzeit an der Rückführung von Botschaftspersonal sowie der Ausreise von afghanischen Ortskräften aus Kabul.
US-Präsident Joe Biden kündigte vor dem Hintergrund der verschlechterten Sicherheitslage am Samstag eine Aufstockung der US-Soldaten an, die bei der Evakuierung der US-Botschaft helfen sollen. Es würden tausend weitere US-Soldaten zur Absicherung der Diplomaten-Ausreise nach Kabul geschickt, erklärte Biden. Ursprünglich war vorgesehen, dass die tausend noch in Afghanistan befindlichen US-Soldaten sowie 3000 zusätzlich entsandte Armeeangehörige die Rückführungsaktion absichern.
Laut Russland soll sich der UN-Sicherheitsrat in einer Dringlichkeitssitzung mit der Lage in Afghanistan befassen. Samir Kabulow vom russischen Außenministerium erklärte zugleich, anders als andere Staaten plane Russland nicht die Evakuierung seiner Botschaft in Kabul. Es gebe "direkte Gespräche" zwischen dem Kreml und dem russischen Botschafter in Kabul. Die Botschaftsmitarbeiter gingen ihrer Arbeit weiterhin "in Ruhe" nach.
(lfr/afp)