Im Karibikstaat Haiti herrscht derzeit größtmögliches Chaos. Das Land, das schon lange mit paramilitärischen Banden zu kämpfen hat, droht nun gar völlig in die Hände dieser Gangs zu geraten. Grund dafür sind die sich gleichzeitig zunehmend auflösenden politischen Strukturen. Wahlen werden seit mehreren Jahren verschoben, ein Parlament gibt es daher derzeit nicht.
Nachdem Premierminister Ariel Henry, der selbst nie gewählt, sondern von Vorgänger Jovenel Moïse 2021 kurz vor dessen Tod als Nachfolger ernannt wurde, die Wahlen im Februar erneut verschob, hatten die Banden endgültig genug und formierten eine Allianz zum Sturz der Regierung. Ihr Anführer dabei ist Jimmy – genannt: "Barbecue" – Chérizier, der einen schrecklichen Ruf mit sich trägt.
Nun drängten er und seine Banden Premierminister Henry zum Rücktritt. Einst ein gnadenloser Polizist, ist Chérizier jetzt einer der, wenn nicht sogar der mächtigste Mann in Haiti. Wie hat "Barbecue" das geschafft und wer ist der Mann mit dem auffälligen Spitznamen?
Um seinen berühmt-berüchtigten Spitznamen "Barbecue" ranken sich verschiedene Gerüchte. Vor allem zwei Versionen der Geschichte werden als Erklärung immer wieder angeführt. Da wäre einmal Chériziers Kindheit: Er selber sagt, der Spitzname käme daher, dass er die Grillhühnchen seiner Mutter so sehr geliebt habe.
Die andere Ursprungsgeschichte für den Namen "Barbecue" ist bei weitem nicht so harmlos, sondern gar grausam: Bevor Chérizier zum Ganganführer wurde, war er ironischerweise Polizist. Ob man sagen kann, dass er auf der Seite des Gesetzes stand, ist jedoch streitbar – seine Einheit soll bei Massakern Menschen abgeschlachtet und ihre Leichen gar zerstückelt und verbrannt haben. So wurde der Name "Barbecue" etabliert.
Diese Massaker beging Chériziers Spezialeinheit laut "NZZ" gegen regierungskritische Milieus. Passenderweise wurden ihm mitunter auch Verbindungen zum ehemaligen Präsidenten Jovenel Moïse nachgesagt – jedoch ebenfalls zu schwerbewaffneten Banden.
Nachdem "Barbecue" wegen seiner Gräueltaten aus dem Polizeidienst entlassen wurde und vor einer Verhaftung geflohen war, schloss er sich selbst einer solchen Bande an. Er wurde führendes Mitglied und verkündete 2020 gar den Zusammenschluss neun verschiedener Gangs – genannt: G9 – unter seiner Führung.
Der heutige haitianische Bandenboss ist in einem Slum in der Hauptstadt Port-au-Prince aufgewachsen – zusammen mit seiner Mutter und seinen sieben Geschwistern, jedoch ohne Vater. Dieser starb, als der angebliche Grillhühnchenfanatiker gerade fünf Jahre jung war.
Dennoch schaffte es Chérizier zu einem führenden Polizisten – und mit steigender Frustration über das kaputte System in Haiti zum überzeugten Anführer brutaler Banden. Diese geben sich unter Chériziers Führung nicht mehr nur mit Raub, Drogenhandel und anderen Geschäften, die Geld bringen, zufrieden, sondern entwickeln sich zum politischen Player. 2021 rief "Barbecue" mit der G9 zur bewaffneten Revolution gegen die Elite Haitis auf.
Da die Regierung sich an ihre Posten klammerte, stärkte sie dadurch den Entschluss der Banden, in die Lage einzugreifen. Sie attackierten nach der erneuten Verschiebung der Wahlen in den vergangenen Wochen kritische Infrastruktur und brachten sie unter ihre Kontrolle, etwa den Hafen und Flughafen sowie Regierungsgebäude in Port-au-Prince. Auch Gefängnisse und Polizeistationen überfielen sie. Ihre Forderung: Premierminister Henry soll zurücktreten.
Chérizier präsentiert sich gerne als Befreier seiner Nation. Die Menschen aus seiner sozialen Schicht würde er "niemals massakrieren" sagte er der AP. Doch obwohl sie gegen das korrupte System vorgehen, helfen die aufbegehrenden Banden der Bevölkerung kaum.
Sie terrorisieren die Bevölkerung und haben laut "tagesschau.de" auch nicht ihren Rückhalt: Zuletzt "lynchten aufgebrachte Menschen einen berüchtigten Gangsterboss und schleiften anschließend seine Leiche durch die Straßen". Die Wut sowohl auf die Politik als auch auf die Banden ist laut ARD-Korrespondent Markus Plate "in Haiti überall spürbar".
Was nach Henrys Rücktritt nun passiert, bleibt unklar. Vergangene Woche warnte der Bandenführer davor, dass das Land auf einen Bürgerkrieg zusteuere, "der zu einem Völkermord führen wird", sollte Henry nicht zurücktreten. Letzteres ist jetzt zwar geschehen. Doch unter Anführer Chérizier könnte dennoch eine Welle der Gewalt drohen. "Barbecue" ist nicht nur ein Feind der haitianischen Demokratie.
Im Gegenteil: Als sein Vorbild nennt er den ehemaligen Diktator François "Papa Doc" Duvalier, der zwischen 1957 und 1971 herrschte. Unter dessen Führung starben und verschwanden in Haiti zehntausende Menschen. Sollte die korrupte Diktatur nun durch eine Bandendiktatur abgelöst werden, drohen dem Karibikstaat noch finstere Zeiten.