Ein Mann steht beinahe unbeeindruckt vor einer Reihe voll ausgerüsteter Sicherheitskräfte. Sie kommen mit Schutzanzug, Helm, Schild und Knüppel. Über sie hinweg sprüht ein kräftiger Wasserstrahl auf Zivilist:innen.
Der junge Georgier spannt eine EU-Flagge vor sich auf, als wollte er sich damit vor der Wassermasse schützen – als wäre das Blau stark wie Beton. Für einen winzigen Moment hält er sogar stand, bevor die Kraft des Wasserstrahls den jungen Mann wegspült.
Es ist ein Video, das wohl am besten zusammenfasst, was sich momentan in Georgien ereignet: Die Menschen haben genug von Russlands Einfluss, sehen ihre Zukunft in Europa, wollen der EU beitreten – diese Ziele verteidigen sie seit Wochen auf der Straße.
Auslöser der Proteste ist das umstrittene "Agentengesetz". Das Gesetz sieht vor, dass Organisationen, die sich zu mehr als 20 Prozent mit Geldern aus dem Ausland finanzieren, als sogenannte ausländische Agenten registrieren lassen müssen. Anderenfalls drohen ihnen Strafen.
Kritiker:innen bezeichnen es auch als "russisches Gesetz", denn der Entwurf ähnelt einem 2012 in Russland verabschiedeten Gesetz. Die russischen Behörden nutzen es, um gegen Medien, regierungskritische Organisationen und andere Regierungsfeinde vorzugehen.
Im georgischen Parlament löste das "Agentengesetz" auch eine Schlägerei aus. Oppositionsmitglied Aleko Elisashvili versetzte dem Angehörigen der Regierungspartei Mamuka Mdinaradze einen Schlag gegen den Kopf, der sich für das Gesetz ausspricht. Denn: Laut der Regierung wolle man mit der Reglung den Einfluss von außen auf politische Entwicklungen verhindern.
Bei der Opposition reißt der Geduldsfaden. Auch Elisashvili steht mit der Zivilbevölkerung auf der Straße in Tiflis. Seine Augen sind deutlich angeschwollen und rot unterlaufen, er kann sie nur halb öffnen. Mit Wasser versucht er, offenbar das Tränengas auszuwaschen. "Wir werden nicht aufhören, wir atmen durch und führen den Kampf fort!", verkündet er überzeugt.
"Die Stimmung in Tiflis ist sehr angespannt", sagt Stephan Malerius auf watson-Anfrage. Er leitet das Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in der Hauptstadt Georgiens.
Laut Malerius gab es seit gestern den vierten Tag hintereinander Großkundgebungen: am Sonntag Proteste gegen das Gesetz, am Montag eine inszenierte Veranstaltung der Regierung, am Dienstag und Mittwoch wieder Proteste gegen die Regierung. "Seit Dienstag geht die Polizei gewaltsam gegen die Protestierenden vor: Wasserwerfer, Tränengas, Gummigeschosse", sagt er.
Damit sei eine neue Qualität in der Auseinandersetzung eingetreten und der Konflikt beginne zu eskalieren.
Laut der georgischen Aktivistin Mariam Geguchadze wurden Menschen von Kugeln getroffen, einer Person wurde demnach ins Auge geschossen. "Wasserwerfer, Gas, sie tun alles, um die russische Regierung zu schützen. Es ist eine Katastrophe. Wir sind immer noch da", schreibt sie auf der Plattform X.
Bereits im Frühjahr 2023 kam es zu Massenprotesten, als die Regierung das "Agentengesetz" durchboxen wollte. Damals legte man das Vorhaben auf Eis – doch die Situation in diesem Jahr ist anders, meint der Experte in Tiflis.
"Damals war die Regierung von der Massivität der Proteste überrascht und sah sich gezwungen, das Vorhaben zurückzuziehen. Jetzt ist man vorbereitet und gibt sich entschlossen, das Gesetz auch in der dritten Lesung zu verabschieden", meint Malerius.
Diese ist für den 17. Mai angekündigt. Die Befürworter des Gesetzes ziehen auch in Betracht, eventuell ein Veto der Präsidentin zu überstimmen. Sprich, die georgische Regierung will das "Agentengesetz" auf jeden Fall durchsetzen. Zu dieser Einschätzung kam auch Georgien-Experte Denis Cenusa in einem früheren Gespräch mit watson.
Es gehe um Kontrolle der NROs, die von westlichen Gebern finanziert werden. Unter NROs versteht man Nichtregierungsorganisationen, zum Beispiel Gewerkschaften, Kirchen und Bürgerinitiativen. Demokratisierende Prozesse könnten mithilfe des Gesetzes verringert werden, meint Cenusa.
"Die Regierung ist entschlossen, das Gesetz 'durchzuboxen', und ja, dann ist damit zu rechnen, dass die Proteste weitergehen und möglicherweise auch weiter eskalieren", sagt Malerius.
Für die Protestierenden stehe die Zukunft Georgiens hier und jetzt auf dem Spiel.
Seit beinahe drei Wochen finden die Demonstrationen statt – "mal größer, mal weniger groß, und bislang ist alles friedlich gewesen", sagt Malerius. Die Anwendung von Gewalt seitens der Sicherheitskräfte seit Dienstag sei unverhältnismäßig und gieße Öl ins Feuer.
Die EU zeigt sich besorgt über die Situation in Georgien.
Anfang der Woche gab es eine parteiübergreifende Resolution des Europaparlaments, und auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen twitterte, dass sie die Situation in Georgien mit Sorge beobachtet.
"Es ist wichtig – das passiert aber auch –, dass die EU ihre Unterstützung für die Demonstrierenden bekundet und klarmacht, dass die Situation im Land genau beobachtet wird", sagt Malerius. Laut ihm können Sanktionen ins Spiel gebracht werden - wie etwa der Entzug der Visafreiheit. Das würde den Druck auf die Regierung verstärken.