Videos von der Front lassen vermuten, was Militärexpert:innen schon seit Längerem berichten: Russland hat Probleme damit, genügend Nachschub an Material für den Krieg in der Ukraine zu finden. Auf den Aufnahmen ist etwa zu sehen, wie russische Truppen in ungepanzerten Fahrzeugen in Frontgebieten unterwegs sind.
Doch die Situation ist für beide Seiten derzeit schwierig. Auch die Ukraine hat mit Nachschub für den Krieg zu kämpfen. Besonders, was die Anzahl der zur Verfügung stehenden Soldaten angeht, ist Russland hier im Vorteil. Doch ein Militärökonom sieht trotz einer brutalen Taktik des russischen Machthabers Wladimir Putin eine Chance. Demnach bliebe der Ukraine eine ungewöhnliche Strategie.
Die Videoaufnahmen von der Front überraschen selbst den Militärökonomen Marcus Keupp von der Militärakademie ETH Zürich. Er berichtet bei "ZDF heute" von Bildern russischer Truppen, bei denen auffalle, dass "sie – ich scherze jetzt nicht – mit Golfkarts und ungepanzerten Geländefahrzeugen die Infanterie in das Feld bringen".
Ganz anders zu Kriegsbeginn: Eine Kolonne habe sich im Feld damals noch mit 60 Panzern und 20 Schützenpanzern fortbewegt. Jetzt fahren russische Soldaten laut Keupp mit ungepanzerten Fahrzeugen und präparierten, uralten panzern wie dem T-62. Ein deutlicher Hinweis auf den Ressourcendruck, dem Russland derzeit unterliege.
Dem Experten zufolge hat Russland bereits 2.920 Kampfpanzer und damit die ganzen einsatzfähige Reserve verbraucht, die vor dem Krieg da war. Was nun nachgeschoben wird, komme demnach aus sowjetischen Lagern und müsse vor dem Einsatz erst instandgesetzt werden.
Aus diesem Grund attestiert Keupp Russland aktuell keine große Schlagkraft: "Wenn die Ukraine sich diesem Vormarsch jetzt entgegenstellen könnte, wenn sie genügend Artillerie, Luftverteidigung und so weiter hätte, dann würde Russland ziemlich schnell in eine prekäre logistische Lage hineinkommen."
Doch dem ist nicht so. Auch der Ukraine mangelt es an Artillerie und damit an Schlagkraft.
Genau darauf setzt Russland nach Meinung des Experten. Spekulationen zu einer russischen Großoffensive hält er wegen des Ressourcenmangels für unwahrscheinlich: "Sobald man anfängt, die Logistik ein bisschen abzutasten, halte ich das ehrlich gesagt für unglaubwürdig", ist der Militärökonom überzeugt. Sollte sich Putin wider Erwarten wegen der schlechten Verteidigungsfähigkeit der Ukraine dafür entscheiden, seien die Vorbereitungen auf solch eine Offensive zudem bereits Wochen zuvor zu sehen.
Für Russland ist es schwierig, eine Front von einer Länge von fast 1500 Kilometern dauerhaft zu besetzten. Und: "Das russische Material ist sehr stark abgenutzt worden durch die massiven Angriffe, nicht nur auf Awdijiwka, auch auf Marjinka zum Beispiel", sagt er.
Aktuell versuchen russische Truppen den kleinen Ort Ivanivske, südlich von Bachmut, einzunehmen. Mit dem Ziel, danach nach Tschassiw Jar vorzustoßen, wie Keupp sagt. Und weiter: "Normalerweise ist das etwas, was Sie als Ukraine nicht gestatten würden. Sprich: Man macht dem Gegner keine Zugeständnisse und man lässt ihn nicht Gelände gewinnen."
Da die Ukraine die Ortschaften ohnehin nicht genügend verteidigen könne und hohe Verluste drohen, könne hier Kiew nach Meinung des Experten eine ungewöhnliche Taktik greifen. Denn: "Das klingt jetzt zynisch, aber der russische Diktator kann Menschen in sehr großen Umfang nachschieben und opfern, damit hat er auch kein Problem. Die Ukraine kann das nicht."
Kiew müsse deshalb damit rechnen, im Laufe des Jahres Gebiete zu verlieren und dies taktisch zuzulassen, um sich einen Vorteil zu schaffen: "Weil es eben die Russen dazu zwingt, immer mehr Material vorzuschicken und Infanterie vorzuschicken und sich somit dieses Vorrücken im Gelände sehr teuer zu erkaufen." Das sei eine Verzögerungstaktik, die auf logistische Abnutzung setze, sagt Keupp.
Allerdings warnt er auch, dass dies nur für eine begrenzte Zeit funktionieren könne:
Das sei auch Wladimir Putin bewusst. Der russische Machthaber wisse dem Experten zufolge genau, dass die Zeit gegen Russland laufe. Putin seinerseits wolle es schaffen, den Gegner an die Wand zu drücken und zu einem Friedensschluss zwingen, bevor das Industriepotenzial des Westens ihn plattmache. Er geht sogar so weit, zu sagen, dass der Westen massiv Material in den Krieg investieren sollte. Auch Kampfflugzeuge. "Dann hat Putin keine Chance", ist der Experte überzeugt.