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Russland-Drohne auf Nato-Gebiet: Bündnisfall ist kein Automatismus

ARCHIV - 29.05.2024, Litauen, Pabrade: Soldaten der Bundeswehr bereiten sich auf dem Leopard 2 Panzer auf den Abschluss der Nato-Übung Quadriga 2024 vor. Die Bundeswehr zeigt auf dem Truppenübungsplat ...
Soldaten der Bundeswehr auf dem Leopard-2-Panzer. (Symbolbild)Bild: dpa / Kay Nietfeld
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Russische Drohne in Litauen: Warum ein Nato-Bündnisfall nicht automatisch eintritt

Ein abgestürzter Flugkörper mit Sprengstoff sorgt im Baltikum für Nervosität, schließlich ist es auch Nato-Gebiet. Wann greift die Nato wirklich ein?
07.08.2025, 10:2907.08.2025, 14:52
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Sie sind kaum größer als ein Snowboard, bestehen aus Holz, Schaumstoff und Kabeln – und sie können töten: Drohnen des Typs "Gerbera" sind im Ukraine-Krieg im Einsatz. Eine davon, mit Sprengstoff bestückt, ist im Nato-Land Litauen abgestürzt. Ihr mutmaßlicher Ursprung: Russland oder Belarus.

Das Gerät stürzte im Zentrum des Landes nahe Jonava ab, unweit der Hauptstadt Vilnius. Entdeckt wurde es von Spezialkräften, nachdem Bürger:innen die Drohne am Himmel gesichtet hatten.

Litauen fordert Unterstützung von Nato-Mitgliedsstaaten.

Das bringt neue Brisanz in die Debatte um die Sicherheit der östlichen Bündnisstaaten. Die Drohne wirft eine Frage auf, die man in Brüssel nicht gerne laut stellt: Was passiert eigentlich, wenn so ein Teil nicht nur abstürzt, sondern explodiert? Ab wann muss die Nato eingreifen? Schließlich heißt es in Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrags: "Die Parteien kommen überein, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen [...] als ein Angriff gegen sie alle betrachtet wird."

Anders als viele denken, tritt der Nato-Bündnisfall nicht automatisch ein, auch nicht bei einem Angriff. Das stellt Sicherheitsexperte Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg klar.

Experte: Auch bei Atom-Angriff ist der Nato-Bündnisfall kein Selbstläufer

"Der Nato-Bündnisfall ist kein Automatismus", erklärt er gegenüber der "Frankfurter Rundschau". Selbst im Fall eines Angriffs entscheiden demnach die Mitgliedstaaten, ob sie von einem Bündnisfall sprechen. "Überspitzt gesagt: Wenn die Russen eine Nuklearwaffe in Norwegen explodieren, dann ist das nicht automatisch der Bündnisfall, solange die Mitgliedstaaten ihn nicht als solchen definieren", sagt Kühn.

ARCHIV - 09.07.2023, Litauen, Vilnius: Flaggen der Nato-Mitgliedsländer wehen im Wind vor dem Veranstaltungsort des Nato-Gipfels. (zu dpa: «Litauen: Flugobjekt aus Belarus auf Militärgelände entdeckt» ...
Litauen, Vilnius: Flaggen der Nato-Mitgliedsländer wehen im Wind.Bild: AP / Mindaugas Kulbis

Konkret steht im Artikel 5, dass im Falle eines bewaffneten Angriffs auf Nato-Gebiet, dass ein Mitgliedstaat "unverzüglich einzeln und im Einvernehmen mit den anderen Parteien die Maßnahmen ergreift, die sie für notwendig erachtet, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten".

Das bedeutet: Selbst bei einem Angriff kann jedes Mitgliedsland frei entscheiden, ob und wie es reagiert – mit Waffenlieferungen, Hilfsgütern oder militärischer Unterstützung. Niemand ist zur Entsendung von Truppen verpflichtet.

War die Drohne ein Versehen – oder eine neue Taktik?

Aktuell gehen litauische Behörden nicht von einem gezielten Angriff aus. Die wahrscheinlichste These: Die Drohne wurde ursprünglich in der Ukraine abgefangen und durch ein Luftabwehrsystem versehentlich nach Norden abgelenkt. Also kein bewusster Angriff auf Litauen, sondern ein gefährliches Versehen. Davon geht auch der Experte aus.

Dennoch sei das Szenario ernst zu nehmen, betont Kühn. Hätte die Drohne "vor der Hauptkathedrale in Vilnius explodiert und 20 Menschen getötet", wäre das "extrem kritisch". Dann, so Kühn, "laufen erst mal die Drähte nach Moskau heiß und man würde fragen: War das Absicht? Und wenn ja: Seid ihr verrückt?"

Litauen fordert von Nato mehr Schutz und Solidarität

Auch wenn keine Menschen zu Schaden kamen, ist der Vorfall für Litauen ein Warnsignal. In einem gemeinsamen Schreiben an Nato-Generalsekretär Mark Rutte forderten Außenminister Kestutis Budrys und Verteidigungsministerin Dovile Sakaliene umgehend "Maßnahmen zur Verbesserung der Luftverteidigungsfähigkeiten in Litauen".

Für Kühn ist das vor allem ein politisches Zeichen: "Die Litauer wollen zurecht das Gefühl haben: Unseren Bündnispartnern ist es nicht egal, was hier passiert." Denn auch symbolische Solidarität zählt – gerade in einer Region, in der das Gefühl ständiger Bedrohung zum Alltag gehört.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Russland hat in der Vergangenheit immer wieder bewusst mit Grauzonen operiert, etwa mit Cyberangriffen, Desinformationskampagnen, Luftraumverletzungen oder Sabotageakten. Oft so, dass sich direkte Schuld schwer nachweisen lässt, der Druck auf Nato-Staaten aber spürbar steigt.

Auch Drohnen, die knapp außerhalb der offiziellen Kriegszone landen, können Teil dieser Strategie sein. Nicht unbedingt, um sofort zu eskalieren, sondern um Unsicherheit zu säen, Reaktionen zu testen und das Gefühl ständiger Bedrohung zu verstärken.

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