Taliban-Kämpfer halten Wache in der Stadt Ghazni südwestlich von Kabul.Bild: AP / Gulabuddin Amiri
International
Westliche Staaten beschleunigen ihre Bemühungen, um
eigenes Personal und afghanische Ortskräfte vor den rasch
vorrückenden Taliban in Sicherheit zu bringen. Das
US-Außenministerium kündigte an, dass die dazu gedachte Verstärkung
für die US-Truppen in Afghanistan von rund 3000 Soldaten bis Sonntag
größtenteils in Kabul sein werde. Der britische Premier Boris Johnson
sagte, Mitarbeiter der britischen Botschaft sollten Kabul binnen
Tagen verlassen. Auch Deutschland will laut Außenminister Heiko Maas
das Botschaftspersonal auf das "absolute Minimum" reduzieren. Mit
zwei Flugzeugen sollen Personal und auch Ortskräfte ausgeflogen
werden.
Die militant-islamistischen Taliban haben mittlerweile mehr als die
Hälfte der 34 Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle gebracht. Am
Donnerstag und Freitag fielen mit Herat und Kandahar auch die dritt-
und zweitgrößte Stadt des Landes an die Islamisten. Mit Pul-i Alam in
der Provinz Logar haben die Taliban auch eine Provinzhauptstadt nur
rund 70 Kilometer südlich der Hauptstadt Kabul eingenommen.
Auch deutsche Soldaten könnten für Evakuierungen eingesetzt werden
Die USA hatten bereits am Donnerstag angekündigt, ihr
Botschaftspersonal zu reduzieren und rund 3000 zusätzliche Soldaten
an den Flughafen in Kabul zu entsenden. Auch London will rund 600
Soldaten schicken, um die Rückführung von Briten zu sichern. Ein
Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums schloss am Freitag nicht
aus, dass auch Bundeswehrsoldaten zur Absicherung einer Rückholaktion
zum Einsatz kommen könnten. Die Bundeswehr halte Kräfte bereit, die
"im Falle eines Falles zur Verfügung stehen", sagte er.
Der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, betonte am
Freitag, die US-Streitkräfte könnten täglich Tausende Menschen aus
Kabul evakuieren. Die Kapazität für den Lufttransport sei "kein
Problem", sagte Kirby. Nach seinen Worten ist Kabul derzeit nicht
"unmittelbar bedroht". Die Taliban versuchten, die Hauptstadt zu
isolieren.
Die Visavergabe könnte auch in Deutschland stattfinden
Auch Großbritannien will die Mitarbeiter der Botschaft in Kabul in
den kommenden Tagen größtenteils abziehen. Das sagte Premier Johnson
nach einer Sitzung des nationalen Sicherheitskabinetts (Cobra) zur
Lage in dem zentralasiatischen Land am Freitag in London.
Gleichzeitig solle ein Team des Innenministeriums entsandt werden, um
die Ausreise von Afghanen zu organisieren, die für die britischen
Streitkräfte tätig waren. Botschafter Laurie Bristow und ein kleines
Team blieben im Land, würden aber an einen "sichereren" Ort in Kabul
umziehen, teilte die britische Regierung weiter mit. Medienberichten
zufolge sind noch etwa 4000 Briten in Afghanistan.
Auch die Bundeswehr und deutsche Institutionen beschäftigten in
Afghanistan viele Ortskräfte, ihnen soll nun die Ausreise erleichtert
werden. Wie zuvor Außenminister Maas sagte auch Innenminister Horst
Seehofer (CSU), dass die Identitätsfeststellung und die Vergabe von
Visa notfalls auch in Deutschland erfolgen könnte. "Wir sind für
jedes Verfahren offen. Am Bundesinnenministerium scheitert keine
Einreise von Ortskräften", sagte Seehofer der "Süddeutschen Zeitung". Grünen-Chef Robert Habeck forderte in der Zeitung, hier
müssten auch Menschen aus Afghanistan einbezogen werden, die über
Firmen, also nicht direkt für die Bundeswehr oder andere deutsche
Institutionen gearbeitet haben.
António Guterres mit starken Worten gegen die Taliban
Derweil warf die US-Regierung der afghanischen Führung und den
Sicherheitskräften angesichts des Vormarsches der Taliban mangelnde
Kampfbereitschaft vor. Es sei "beunruhigend" zu sehen, dass die
politische und militärische Führung nicht den "Willen" gehabt habe,
sich dem Vormarsch der militanten Islamisten zu widersetzen, sagte
der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, Kirby, dem Sender CNN.
Die USA hätten den "fehlenden Widerstand" durch die afghanischen
Streitkräfte nicht vorhersehen können. Die afghanischen
Sicherheitskräfte seien den Taliban in Bezug auf Ausrüstung, Training
und Truppenstärke überlegen und verfügten über eine eigene Luftwaffe.
UN-Generalsekretär António Guterres forderte die Taliban zur
sofortigen Einstellung ihres gewaltsamen Vormarsches in Afghanistan
auf. "Die Macht durch militärische Gewalt an sich zu reißen, ist ein
zum Scheitern verurteiltes Vorgehen", sagte Guterres in New York. "Es
kann nur zu einem verlängerten Bürgerkrieg oder der kompletten
Isolation von Afghanistan führen." Er hoffe auf eine mit allen
Parteien verhandelte Einigung zur Beendigung des Konfliktes. Die
Situation bereite ihm große Sorge, sagte Guterres. "Afghanistan gerät
außer Kontrolle."
Der Migrationsdruck könnte steigen
Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, rechnet aufgrund
des raschen Vormarsches der Taliban mit einem wachsenden
Flüchtlingsdruck auch auf die EU und Deutschland. Der SPD-Politiker
verwies in der "Rheinischen Post" (Samstag) darauf, dass es am
Hindukusch rund 3.5 Millionen Binnenflüchtlinge gebe. Der Druck werde
nicht nur weiter "massiv" auf die Türkei, Iran und Pakistan steigen.
"Ich bin mir sicher, dass der Migrationsdruck auf die EU und
Deutschland aber auch zunehmen wird", sagte Roth. Die UN-Agentur zur
Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) berichtete am Freitag, viele
Menschen suchten in Kabul und anderen Großstädten Schutz vor
Bedrohungen. Viele kämen bei Freunden oder Verwandten unter, eine
wachsende Zahl halte sich aber auch im Freien der Hauptstadt auf.
(lfr/dpa)
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