Eigentlich hätte das Interview längst stattfinden sollen. Doch als watson versuchte, die Grünen-Politikerin Viola von Cramon-Taubadel zu erreichen, ging die Mailbox ran. Grund: Komplikationen. Die Europaabgeordnete steckte in der Ukraine fest.
Kurz nach ihrem Aufenthalt sprach watson mit der stellvertretenden Vorsitzenden der EU-Ukraine Delegation über eines der wichtigsten Probleme der ukrainischen Innenpolitik: Korruption.
Und von Cramon warnt indirekt vor einem möglichen Machtmissbrauch des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Watson: Frau von Cramon, im Januar wurden viele ukrainische Beamte entlassen, im Februar sollte Verteidigungsminister Oleksij Resnikow sein Amt verlieren, nun will Präsident Wolodymyr Selenskyj alle Chefs der Rekrutierungszentren feuern – wegen Korruptionsverdacht. Wie ordnen Sie diese Entwicklungen ein?
Viola von Cramon: Es ist grundsätzlich gut, dass sich Präsident Selenskyj auch im Krieg mit dem Thema Korruption befasst. Das ist nicht selbstverständlich. Dennoch muss man auch hier aufpassen: Geht es wirklich um Korruptionsbekämpfung oder darum, politische Nebenbuhler zu diskreditieren?
Wie meinen Sie das?
Es kann sein, dass zum Beispiel Verteidigungsminister Resnikow ausgetauscht werden soll. Dafür wird ein Grund gesucht als Sündenbock werden dann die Rekrutierungszentren in den Fokus genommen.
Und die Korruptionsbekämpfung als Deckmantel nutzt?
Ich kenne diesen speziellen Fall jetzt nicht, aber was ganz klar ist, und worüber wir auch offen sprechen müssen, ist die Frage: Wie stellen wir sicher, dass die Gelder, die wir demnächst im großen Stil in die Ukraine für den Wiederaufbau geben, so transparent vergeben werden, dass wir in der EU auch guten Gewissens unseren Steuerzahler:innen sagen können: Ja, das geht an die richtigen Projekte. Und: Nein, davon wird nichts abgezweigt.
Wie groß ist Ihre Sorge dabei?
Meine Sorge gilt weniger der herkömmlichen Korruption, sondern eher der Frage, ob der Präsident mit seinen Leuten im Vorfeld eine Konstellation schafft, in der es keine echten Wettbewerbsbedingungen gibt und in der nur eine kleine Gruppe Zugriff auf die Gelder haben wird. Zu oft wird dann zu uns EU-Vertretern gesagt, das erfolge aus Gründen der Effizienz und der Übersichtlichkeit.
Eine schwammige Grenze zwischen Vetternwirtschaft und Korruption ...
Vetternwirtschaft klingt etwas hart. Man muss aber dennoch schauen, dass am Ende eben nicht nur Family and Friends, die handverlesen und politisch genehm sind, Zugriff auf Wiederaufbau-Gelder haben. Und dass die Zeit im Vorfeld der Auszahlungen nicht schon zur politischen Konsolidierung genutzt wird.
Können Sie das erklären?
Was ich mitbekomme, ist, dass viele Leute, die eigentlich Kritik äußern möchten, dies nicht mehr tun, weil sie Angst haben, mit ihren guten Projekten nicht von künftigen Geldern profitieren zu können. Genau das darf nicht passieren. Dass womöglich berechtigte Kritik wegen Abhängigkeiten etwa von der Präsidialadministration nicht geäußert wird.
Wie wollen Sie dem entgegenwirken?
Was wir tun müssen, ist, dafür zu sorgen, dass die vielen Gemeinden gestärkt werden. Denn die sind es, die die Ukraine so stark machen. Die Widerstandsfähigkeit in den einzelnen Regionen, in den Städten, in den Gemeinden, mit den Bürgermeistern, Stadträten und und und – all das müssen wir dezentral mit Wiederaufbaugeldern stärken. Denn deren Widerstandsfähigkeit macht das Rückgrat und das Leben in der Ukraine aus. Aber genau diese dezentralen politischen Kräfte sind nicht von jedem in Kiew gewollt.
Sondern?
Vor allem die Präsidialadministration möchte, dass das Geld zentral vergeben wird. Das Problem dabei ist: Viele der Projekte, die jetzt angedacht werden, haben für die Menschen in der Region gar keine Priorität. Sie sagen: "Pass auf, wozu sollen wir jetzt eine große Straße neu bauen, wenn die möglicherweise wieder zerbombt wird. Aber ich möchte, dass meine Kinder in Schulen in einen Bunker gehen können." Die Kinder sind seit drei Jahren nicht mehr in der Schule gewesen. Mir wurde berichtet, dass es in der zweitgrößten Stadt der Ukraine, in Charkiw, keine einzige Schule mit einem Schutzraum gibt.
Das ist im Westen des Landes anders ...
Ja, da haben einige Schulen einen Bunker, weil man in der Sowjetzeit davon ausgegangen ist, dass der Feind aus dem Westen kommt. Und Kiew ist vergleichsweise gut ausgestattet. Im Osten, etwa in Charkiw, können die Kinder wegen der fehlenden Sicherheitsvorkehrungen seit Jahren nicht mehr zur Schule gehen. Und das, sagen die Menschen, hat Priorität. Das wird einen Konflikt geben – und da muss die EU dafür sorgen, dass die Regionen, Gemeinden und Städte nicht hinten runterfallen.
Wenn wir schon von Transparenz sprechen: Erst kürzlich hat sich das ukrainische Parlament, darunter auch Selenskyjs Partei, gegen eine Verschärfung des Transparenzgesetzes gestellt. Ähnliches passiert zurzeit öfter. Warum fällt es den Ukrainer:innen so schwer, Gesetze zur Offenlegung von Vermögen durchzubringen?
An sich ist es nicht so schwer. Die Gesetze gab es ja alle schon. Man hat sie unter dem Kriegsrecht teilweise außer Kraft gesetzt. Wir sind in der Ukraine viel weiter als etwa in Deutschland. Ich muss mein Vermögen als Politikerin nicht offenlegen. In der Ukraine müsste ich das schon mit meiner Kandidatur tun. Viele meinen ja irgendwie, die Ukraine lebe hinterm Mond und wir seien so weit voran. Das Gegenteil ist der Fall. Man hatte dort eine sehr fortschrittliche Antikorruptionsgesetzgebung. Die muss man jetzt wieder reanimieren – und genau diese Fragen stellen wir der ukrainischen Regierung.
Das gestaltet sich zurzeit aber dennoch nicht sonderlich einfach ...
Im Krieg gilt meiner Meinung nach beim Einkommen von Politikerinnen und Politikern das gleiche wie zu zivilen Zeiten. Die Leute können natürlich ihr Vermögen offenlegen und das wird auch wieder passieren. Dafür gibt es Mehrheiten. Ähnlich muss es auch bei der staatlichen Beschaffung dazu kommen, dass diese wieder transparent wird. Das Gleiche gilt für die Wahl der Richter.
Wie will die EU dabei unterstützen, dass Korruption weiter bekämpft wird?
Wir bieten technische Unterstützung an, aber das ist während eines Krieges nicht ganz so einfach. Die Ministerien sind unterbesetzt, die Menschen haben teilweise andere Probleme, viele sind außer Landes. Also ja, die EU bietet technische Hilfe an, sie bietet Schulungen an und sie setzt Berater im Land ein – wenn kein Krieg ist. Aber in Kriegszeiten finden sich nicht einfach Menschen, die freiwillig dort bleiben.
Im Oktober wird die EU-Kommission entscheiden, ob sie Beitrittsgespräche mit der Ukraine empfiehlt. Wie würden Sie entscheiden?
Ich bin auf jeden Fall dafür. Das ist wichtig für uns alle. Die Kommission hat auch bislang keinen Zweifel gelassen, dass sie das ähnlich sieht. Wir haben nur im Rat einen Störer.
Viktor Orbán, meinen Sie damit. Den ungarischen Ministerpräsidenten.
Richtig. Aber an sich gibt es auch bei den Mitgliedstaaten, bei uns im Parlament, in der Kommission eine ziemlich einhellige Meinung. Denn erst, wenn wir die Beitrittsgespräche eröffnen, können wir diese ganzen Bedingungen an die Ukraine stellen. Dann können wir genau diese Anti-Korruptionsinstitutionen wieder aktivieren.
Und wie wollen Sie Orbán überzeugen?
Ich weiß nicht, welche Gespräche aktuell laufen, wer Möglichkeiten hat, Druck auszuüben. Ich hoffe nur nicht, dass wir am Ende Mittel aus dem Aufbaufonds an Ungarn auszahlen, die wir aus gutem Grund eingefroren hatten. Wir werden aber Möglichkeiten finden und uns am Ende verständigen.