Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein Thema wieder brandaktuell: Flucht und Vertreibung. Schon vor dem jüngsten offenen Überfall russischer Truppen auf das Nachbarland hatten europäische Politikerinnen und Experten darüber beraten, wie die zu erwartenden Migrations-Bewegungen aufzufangen sind.
Im Interview mit watson zeigt Judith Kohlenberger, Fluchtforscherin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien, Herausforderungen und mögliche Lösungen auf und erklärt, wie die Zivilbevölkerung helfen kann.
watson: Auf der europäischen Migrationskonferenz in Wien am Montag sagte die deutsche Bundesinnenministerin Nancy Faeser, es sei mit Fluchtbewegungen aus der Ukraine zu rechnen. Auf wie viele Menschen müssen sich mögliche Aufnahmeländer einstellen?
Judith Kohlenberger: Im Moment sind Prognosen noch schwierig, da die Situation sehr volatil ist und sich nicht abschätzen lässt, wie lange die Lage anhalten und sich entwickeln wird. Die seriösesten aktuellen Schätzungen gehen von bis zu einer Million Geflüchteten aus der Ukraine aus. Dazu muss man sagen, dass Fluchtbewegungen in verschiedenen Phasen ablaufen.
Welche sind das?
Zuerst kommt es meist zur sogenannten Binnenflucht, bei der die Menschen innerhalb ihres Landes in weniger betroffene Regionen flüchten, etwa zu Verwandten und Bekannten. Das ist in den vergangenen Jahren auch schon passiert, zum Beispiel nach der Annektierung der Krim durch Russland.
Bisher sind etwa 1,5 Millionen Ukrainer innerhalb der eigenen Grenzen geflüchtet. Danach gehen Geflüchtete als erstes in Nachbarländer, hier wird Polen vermutlich am stärksten betroffen sein. Die Bevölkerung reagiert übrigens nicht gleich auf diesen Migrations- und Fluchtdruck.
Wo sind die Unterschiede?
Ältere Menschen flüchten seltener, wenn überhaupt, da sie lieber in der Heimat bleiben möchten. Jüngere Menschen tun sich leichter, auch weil sie mehr Perspektive in einem anderen Land sehen.
Welche Länder werden außer Polen die ersten Adressen für Fluchtbewegungen sein?
Das sind, wie gesagt, die Nachbarländer, neben Polen auch Slowakei, Rumänien und Ungarn. Hier kommt auch der sogenannte Community-Effekt zum Tragen: Geflüchtete gehen vorrangig in Länder, in denen bereits Landsmänner und -frauen leben.
In Polen gibt es eine relativ große ukrainische Community, auch in Deutschland. Das wird auch Auswirkungen haben. Dennoch glaube ich, dass Deutschland erst später betroffen sein wird. Im Fall der syrischen Geflüchteten wirkte Deutschland recht überfordert. Schon vor 2015 warnten Expertinnen und Experten vor kommenden großen Fluchtbewegungen.
Diese Warnungen wurden ignoriert, bis das nicht mehr ging, weil die Menschen an der österreichischen Grenze waren und nach Deutschland weiterwanderten.
Was ist diesmal anders?
Im Gegensatz zu der damaligen Situation haben wir es jetzt mit einem innereuropäischen Konflikt zu tun, weshalb die anderen europäischen Länder unter einem gewissen Zugzwang zu Nachbarschaftshilfe stehen.
Sogar der polnische Innenminister hat angekündigt, sich solidarisch zeigen zu wollen und Menschen aufzunehmen. Die meisten Länder, darunter auch Deutschland, haben bereits Krisenstäbe gebildet. Man hat Learnings aus der Geflüchteten-Situation 2015 gezogen.
Was hat Deutschland daraus gelernt?
Wir sprechen dieses Mal von wesentlich weniger Menschen als 2015. Ein wichtiger Punkt wäre aber die zügigere Abwicklung von Asylverfahren. Im Fall der Ukraine weiß man, dass es ein Kriegsland ist und die Menschen ein Recht auf Asyl haben. Die Verfahren können beschleunigt werden.
Weltweit dauern Fluchtbewegungen immer länger an. Die Vertreibung ist oft eine dauerhafte. Aufnahmeländer müssen damit rechnen, dass ein erheblicher Teil der Ankommenden bleiben wird.
Da ist es sinnvoll, gleich zu Beginn Sprachkurse, Arbeitsmarktangebote und andere Integrationsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Das hat nicht nur für den Einzelnen, sondern für die gesamte Gesellschaft einen positiven Effekt.
Wie muss eine gerechte Verteilung der Menschen unter den Aufnahmeländern geregelt werden?
Hier öffnet sich gerade ein Verhandlungsfenster. Polen war immer eines der Länder, die sich einer Verteilung kategorisch versperrten.
Jetzt wird Polen als erstes und am stärksten betroffen sein, würde von einem europäischen Verteilungsschlüssel also besonders profitieren. Die Verhandlungen um eine faire Verteilung könnten so einen neuen Schub kriegen.
Mit einem Zuzug ukrainischer Geflüchteter dürften Debatten um Obergrenzen wieder losgehen. Was halten Sie davon?
Das Recht, einen Asylantrag zu stellen, ist in der Genfer Flüchtlingskonvention festgehalten, es ist zentral. Dieses Recht wurde in und durch Europa aufgrund der Wirren des Zweiten Weltkriegs erstritten. Eine Obergrenze widerspricht diesem generellen Recht.
Zudem werden die Dimensionen im Ukraine-Konflikt solcherart sein, dass sich die Frage gar nicht stellt. Allerdings kommen auch noch Menschen aus anderen Regionen, etwa aus Syrien.
Sind die Aufnahmekapazitäten der Länder wirklich unbegrenzt, oder muss ein Land irgendwann seriöserweise sagen: Mehr geht nicht?
Die Asylanträge nicht nur von Syrerinnen und Syrern sind in den vergangenen Jahren ganz stark gesunken. Das liegt neben der Pandemie vor allem daran, dass die EU seit 2015 verstärkt auf Abschottung, Abschreckung und Auslagerung der Asylverantwortung setzt.
Es werden Abkommen mit Drittstaaten getroffen – teilweise auch menschenrechtlich zweifelhafte – zur Aufnahme von Geflüchteten. Dazu zählt der EU-Türkei-Deal…
…der sehr umstritten ist.
Das System ist nicht nachhaltig, und so entstehen immer wieder Brennpunkte, etwa auf griechischen Inseln. Und in der Türkei sind in kürzester Zeit fast vier Millionen Geflüchtete angekommen, für die es zu wenige Integrationsangebote gibt.
Global betrachtet kommen nur die wenigsten Geflüchteten nach Europa, sondern finden in Nachbarländern, Ländern des globalen Südens oder in Drittstaaten wie der Türkei Zuflucht. Europäische Länder haben die Grenze ihrer Aufnahmekapazitäten noch lange nicht erreicht.
Wie kann die Zivilbevölkerung in Deutschland zu einer guten Integration Geflüchteter beitragen?
Es braucht Menschen, die die Sprache sprechen und die Menschen empfangen. Es hilft, wenn jeder ankommenden Familie eine Art Mentor zur Seite gestellt wird. Jemand, der bei Bürokratie und Behördengängen hilft und erste Orientierung bietet.
Ein Konzept aufzusetzen, bei dem sich Menschen aus der Zivilbevölkerung bereiterklären, von Anfang an entsprechend zu helfen, ist wichtig und schafft die besten Voraussetzungen für gelungene Integration.