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Interview

Flüchtlinge: Erik Marquardt klagt Schweigen der EU zu illegalen Pushbacks an

Dezember 2022: Erik Marquardt im Interview mit watson
Grünen-Politiker Erik Marquardt ist Mitglied des Europäischen Parlaments und setzt sich vor allem mit Flucht, Migration und Menschenrechten auseinander. bild: watson.de
Interview

Folter an den EU-Außengrenzen – Erik Marquardt: "Kriminelle Grenzpolitik"

10.12.2022, 15:19
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Am Tag der Menschenrechte sollte man wohl auch einen genauen Blick an die EU-Außengrenzen werfen. Ein Vorschlag für eine neue EU-Verordnung könnte Geflüchtete an den Grenzen in Zukunft illegal zurückweisen – das sogenannte "Pushback"-Verfahren.

Disembarkation of migrants in the port of Corigliano Rossano, in Calabria, southern Italy. A hundred arrived on board a sailboat intercepted by the patrol boats of the Guardia di Finanza in the Ionian ...
Geflüchtete sind mit einem Schlauchboot in Italien angekommen - darunter auch Kinder.Bild: IMAGO/Independent Photo Agency Int. / Alfonso DiVincenzo

Der Grünen-Politiker Erik Marquardt ist über den Umgang mit Geflüchteten entsetzt. Im Gespräch mit watson erklärt er, wieso Pushbacks illegal sind und was sich in Zukunft ändern muss.

watson: Erik, wie steht es um die Menschenrechte an den EU-Außengrenzen?

Erik Marquardt: Europa ist gut darin, anderen zu erklären, wie wichtig Menschenrechte sind. Aber schlecht darin, sie an den eigenen Außengrenzen einzuhalten. Der Tag der Menschenrechte ist für mich kein Tag, an dem sich Europa über die Errungenschaften der Menschenrechte freuen sollte. Wir sollten uns klarmachen, dass wir einen Grund zum Schämen haben.

Wofür?

Angesichts des Umgangs mit Menschen auf der Flucht. Momentan beobachten wir an den europäischen Außengrenzen nicht nur Einzelfälle, bei denen Menschen misshandelt werden. Es ist eine ganz gezielte Taktik, die in Kauf nimmt, dass Menschenrechte missachtet werden. Allein für das Ziel, dass weniger Menschen in Europa Asylanträge stellen.

Mit Taktik meinst du auch das "Pushback"-Verfahren?

Ja, es ist verbunden mit Verbrechen. Unsere Grenzpolitik ist damit kriminell.

In Kroatien werden die Pushbacks seit Jahren angewendet. Dabei kommt es immer wieder zu Erniedrigungen der Menschen. Sie werden ausgepeitscht oder ihnen werden die Haare geschoren. Aber auch in Bulgarien werden Geflüchtete tagelang ohne Essen in Ställe gesperrt. Denn ausgehungerte Menschen sind einfacher wieder über die Grenzen zu schicken. Das ist Folter.

August 9, 2018 - Velika Kladusa, Velika Kladusa, Bosnia and Herzegovina - A man showing his beaten up back by the Croatian police after crossing the Croatian border..Refugees trying to make their way  ...
Ein Mann wurde von der kroatischen Polizei geschlagen, nachdem er die kroatische Grenze überquert hatteBild: imago stock&people / imago images

Und die EU-Staaten schweigen?

Diese Stille der demokratischen EU-Regierungen schockt mich am meisten. Sie verleugnen diese Realität. Am Ende geht es vielen darum, dass die Anzahl an Asylanträgen in Europa niedrig bleibt.

Hilft das Pushback-Verfahren dabei?

Durch das Pushback-Verfahren kommt es dazu, dass es mehr unregistrierte Menschen in Europa gibt. Denn den Menschen wird verwehrt, einen Asylantrag zu stellen, weil sie sofort gepusht werden. Wenn man wissen will, wer ins Land kommt, muss man die Leute registrieren und nicht immer wieder verprügeln, bis sie es irgendwann unentdeckt nach Europa schaffen.

Erik Marquardt ist geschockt über die Situation für Geflüchtete an den EU-Außengrenzen.
Erik Marquardt ist geschockt über die Situation für Geflüchtete an den EU-Außengrenzen. null / watson

Welche Rolle spielt hierbei die EU-Grenzwache Frontex?

Frontex weiß von vielen Fällen von Menschenrechtsverletzungen. Die EU-Agentur hat sie nachweislich versucht, zu verschleiern. An manchen Stellen hat Frontex Menschenrechtsverletzungen mitfinanziert. In Einzelfällen auch aktiv mitgewirkt.

Dabei wird Frontex mit immer mehr Personal und Finanzen aufgestockt?

Mit diesem Aufbau erwartet man weniger Geflüchtete. Dabei ist Frontex teuer, ineffektiv und kann die erhofften Erwartungen nicht erfüllen. Denn sie dürfen die Menschen an der Grenze nicht abweisen. In diesem Dilemma bewegt sich diese EU-Grenzagentur: Um den Erwartungen gerecht zu werden, muss sie Recht und Gesetz sowie ihr Mandat brechen.

December 14, 2019, Vucjak, Bosnia and Herzegovina: Afghan refugees washing at abandoned Vucjak illegal camp which was emptied by authorities in December 2019..In Bosnia and Herzegovina around 8,000 re ...
In Bosnien und Herzegowina versuchen Geflüchtete einen Weg über die Grenze nach Kroatien zu finden.Bild: imago images/ZUMA Wire / Jana Cavojska

Und welche Rolle nimmt Deutschland in diesem Dilemma ein?

Die Bundesrepublik muss sich mehr mit dieser Situation beschäftigen. In Deutschland gibt es in vielen Debatten diesen Pragmatismus, mit dem man einen Kompromiss finden will zwischen "Solidarität und Verantwortung" oder zwischen "Härte und Humanismus". Aber all das ist fern von unserem grundlegend rechtsstaatlichen Gedanken.

Es ist auch nicht gut, dass die Grünen in der Asyl- und Migrationspolitik keinerlei Zuständigkeit in der Regierung haben.

Wie meinst du das?

Wir stellen nicht die Flüchtlingsbeauftragte, wir haben keine grünen Innenminister:innen auf Landes- oder Bundesebene. Wir haben keine Federführung in dem Bereich Migrationspolitik. Aus grüner Sicht ist das ein Problem, weil es dazu führt, dass man nicht der Motor in bestimmten Sachen sein kann, die man sich vorstellt und fordert.

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An der griechischen Grenze schlafen Geflüchtete auf dem Boden, während sie sich vor den Behörden verstecken.Bild: www.imago-images.de

Woran liegt das?

An sich ist es kein Zufall, dass die Grünen noch nie das Innenministerium auf Landes oder Bundesebene besetzt haben. Das hängt mit der Geschichte der grünen Partei zusammen. Wir hatten zu lange Probleme damit, für die Polizei zuständig zu sein, für Räumungen und Abschiebungen.

In den vergangenen Jahren hat sich das geändert, weil wir gelernt haben, dass wir die Probleme nur lösen können, wenn wir Verantwortung übernehmen – auch wenn das manchmal schwer ist. Ich hoffe sehr, dass wir bald ein Innenministerium besetzen.

Was haben die Grünen hinsichtlich der Migrationspolitik gut gemacht?

Wir nutzen die Spielräume, die wir in unseren Ministerien haben, sehr gut. Zum Beispiel wird jetzt zum ersten Mal von der Bundesregierung die zivile Seenotrettung mit Geld unterstützt. Dabei ist die europäische Debatte um die Seenotrettung geprägt von Schmierkampagnen und Anschuldigungen. Die Grünen – und die gesamte Ampel – bewahren hierbei eine Klarheit und ziehen das durch, was sie für richtig halten. Sie lassen sich nicht von Rechtsradikalen ablenken, die Falschinformationen über die Seenotrettung verbreiten. Im Mittelmeer sterben tausende Menschen jedes Jahr – das ist nach der Ukraine die größte humanitäre Krise Europas.

Rettungsschiff Sea-Watch 5 verlässt nach Schiffstaufe Hamburg DEU, Deutschland, Hamburg: Das Rettungsschiff Sea-Watch 5 verlässt den Hamburger Hafen in Richtung Dänemark. Das Schiff wurde am 03.11.202 ...
Das Rettungsschiff Sea-Watch 5 rettet geflüchtete Menschen auf dem Meer.Bild: IMAGO/Nikita

Ein gängiges Argument der Rechten ist, dass Deutschland eine Flut an Geflüchteten nicht stemmen könne. Wie schätzt du die Lage ein?

In der Tat gibt es in vielen Kommunen die Herausforderung, dass in diesem Jahr viele Leute gekommen sind. Den größten Teil machen die ukrainischen Geflüchteten aus. Und Deutschland war nicht darauf vorbereitet. Die Infrastruktur wurde konsequent abgebaut, um nicht den Eindruck zu erwecken: Hier ist noch Platz für mehr Geflüchtete. Betten wurden abgebaut und Sozialarbeiter entlassen. Das war nicht besonders klug. Auch wurden die Container für Geflüchtete im vergangenen Jahr verschrottet. Jetzt sucht man händeringend auf dem Weltmarkt nach neuen.

Also ist die angespannte Lage hausgemacht?

Ja, weil sich Deutschland nicht auf weitere Fluchtbewegungen vorbereiten wollte – selbst nach der Erfahrung von 2015.

Der Krieg in der Ukraine war aber nicht voraussehbar.

Diese Situation kam sehr unerwartet. Und hier hat sich vor allem die großartige Leistung der Zivilgesellschaft gezeigt, die Ukrainer zum Beispiel privat untergebracht haben. Aber die Lage hat etwa die Kommunen in eine herausfordernde Situation gebracht. Da hätten die Länder und der Bund mehr Verantwortung übernehmen können. Aber insgesamt hat sich auch gezeigt, dass wir sehr viel schaffen, wenn Politik und Zivilgesellschaft entschlossen anpacken.

Menschen warten in der Anlaufstelle für Flüchtlinge aus der Ukraine auf dem Hauptbahnhof.
Menschen warten in der Anlaufstelle für Flüchtlinge aus der Ukraine auf dem Hauptbahnhof.Bild: dpa / Michael Hanschke

Gerade jetzt im Winter rechnet man damit, dass noch mehr Menschen aus der Ukraine flüchten werden.

Circa drei bis fünf Millionen Ukrainer könnten im Winter in die EU-Staaten fliehen. Bei einem gerechten Verteilungsschlüssel müsste Deutschland ungefähr ein Viertel der Menschen aufnehmen.

Dazu kommen noch die Menschen, die über die Balkanroute flüchten.

Und das sind keine Leute, die gerade irgendwie aus Mallorca kommen, sich verirrt haben und jetzt in Berlin den Elektroclub Berghain besuchen wollen. Es sind Menschen aus Afghanistan und Syrien, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Hierbei stößt mir die vorurteilsbehaftete Debatte der konservativen Opposition sauer auf – ganz vorne dabei der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz.

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Geflüchtete ruhen in einem alten Waggons auf ihrem Weg zur Balkanroute nach Nordmazedonien.Bild: IMAGO/NurPhoto / Nicolas Economou

Inwiefern?

Es ist widerlich, so moralisch überheblich und arrogant über eine schwierige Situation zu reden. Noch im vergangenen Jahr setzte sich seine Partei für die Menschen in Afghanistan ein. Die Afghanen werden von den Taliban unterjocht. Alle sind sich einig über die verheerende Lage in Afghanistan. Aber sobald jemand von dort zu uns flieht, sind das dann die bösen Flüchtlinge. Der CDU/CSU stünde etwas mehr Demut gut.

Was erhoffst du dir von der Migrationspolitik der Bundesrepublik für 2023?

Ich wünsche mir von der Bundesregierung, dass sie die treibende Kraft auf europäischer Ebene einnimmt. Sie muss Lösungswege voranbringen. Es mangelt in Europa nicht an Gesetzen, sondern an Solidarität unter den EU-Staaten und Solidarität mit Menschen auf der Flucht. Mir geht es darum, dass wir wieder in den Rahmen unserer Gesetze zurückkehren – sonst sind wir bald ein krimineller Haufen.

Die Zeit, in der wir mit Knüppeln unsere Höhlen vor Eindringlingen verteidigen, ist aus guten Gründen vorbei. Menschen, die Asyl beantragen, die sollen ein rechtsstaatliches Verfahren bekommen und danach kann man entscheiden, wer bleiben darf und wer nicht. Punkt.

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