Politik
Interview

FDP-Bundestagskandidatin Noreen Thiel (17) über Politik-Sprech und die Frauenquote

Noreen Thiel wird im April 18 Jahre alt. Bei der Wahl im September kandidiert sie für den Bundestag.
Noreen Thiel wird im April 18 Jahre alt. Bei der Wahl im September kandidiert sie für den Bundestag.foto: james zabel
Interview

Noreen Thiel (17): "Ich will gewählt werden, weil man denkt, dass ich kompetent genug bin"

02.02.2021, 15:1303.02.2021, 12:54
Mehr «Politik»

Wäre heute Bundestagswahl, dann dürfte Noreen Thiel noch nicht daran teilnehmen. Sie ist 17, ihr fehlen noch ein paar Monate bis zum gesetzlichen Wahlalter. Thiel bewirbt sich aber jetzt schon dafür, ab kommendem Herbst selbst im Bundestag zu sitzen, als Abgeordnete. Sie ist seit Januar Direktkandidatin der FDP im Wahlkreis Berlin-Lichtenberg – und damit einer der jüngsten Menschen, der für eine der größeren Parteien zur Wahl antritt.

Noreen Thiel hat in den vergangenen Monaten schon Erfahrung gesammelt in der Hauptstadtpolitik: als Mitarbeiterin des Bundestagsabgeordneten Jens Brandenburg, als Social-Media-Beauftragte der FDP-Bundestagsfraktion und der Jungen Liberalen, der Jugendorganisation der Partei.

Watson hat mit Noreen Thiel gesprochen: über ihre Chance, es tatsächlich in den Bundestag zu schaffen, über Politikersprech und Sexismus in der Politik. Wir haben sie gefragt, warum sie als Tochter einer Friseurin aus Ostdeutschland in die FDP wollte – und warum sie mehr Frauen in der ersten Reihe will, die Frauenquote aber ablehnt.

"Ich kann und will Politikersprech nicht adaptieren. Ich benutze gerne einfache Sprache."

watson: Noreen, weißt du, wer die jüngste Bundestagsabgeordnete aller Zeiten war?

Noreen Thiel: Nein. Aktuell ist es Gyde Jensen von der FDP.

Das war Anna Lührmann von den Grünen. Sie war 2002, als sich der Bundestag konstituierte, 19 Jahre alt. Sie hat später über ihre Zeit im Bundestag gesagt, sie habe sich als Abgeordnete "in Politikersprech geflüchtet". Warum würdest du das anders machen?

Weil ich den Politikersprech nicht mag. Ich kann und will ihn nicht adaptieren. Ich benutze gerne einfache Sprache. Ich bin auch stark mit Englisch sozialisiert, Anglizismen gehören zu meinem Wortschatz. Das ist halt so.

Gibt es ein Wort aus dem Politiker-Sprech, das du besonders hasst?

Seit Neuestem ist das "Zukunftskonzept". Das habe ich jetzt beim CDU-Parteitag zu oft gehört. Ganz schlimm.

Du bist Direktkandidatin im Wahlkreis Berlin-Lichtenberg. Den wirst du als FDP-Kandidatin ziemlich sicher nicht gewinnen. Ihr bisher letztes Direktmandat überhaupt hat die FDP 1990 geholt. Wie realistisch ist es, dass du es über einen guten Listenplatz schaffst?

Ich trete gar nicht für die Landesliste in Berlin an, sondern nur im Wahlkreis.

Das heißt, es ist quasi eine Kandidatur ohne Erfolgschance. Warum versuchst du es dann überhaupt?

Ich wollte Wahlkampf machen. Ich wollte einmal selbst entscheiden, wie ich das mache. Das ist eine hervorragende Aufgabe, um dazuzulernen.

Du siehst das als Etappe in deiner Entwicklung?

Genau. Je früher ich das erlebe, desto eher kann ich sagen, ob es mir gefällt. Nicht, dass ich dann mit 40 feststelle: "Oh Gott, das will ich ja alles gar nicht".

"Der Liberalismus legt mir wegen meiner Herkunft keine Steine in den Weg."

Es gibt einen Artikel eines Cottbusser Webmagazins namens "Planbar" aus dem Jahr 2018, in dem du vorkommst, bei deinem ersten Besuch am Stammtisch der Jungen Liberalen in Cottbus. Damals warst du 15. Du wirst mit dem Satz zitiert "Die FDP entspricht oft meiner Meinung". Warum war das damals schon so?

(lacht) Naja, ich hatte mich ja vorher mit den Parteien auseinandergesetzt. Ich bin den Jungen Liberalen, der FDP-Jugendorganisation, beigetreten, weil ich wusste, dass mich ein Großteil der Inhalte der FDP anspricht. Weil er repräsentiert, was ich will.

Welche Inhalte waren das?

Der ganze Komplex zur Bildung: das elternunabhängige Bafög, das Aufstiegsversprechen. Dieser Gedanke, dass es egal ist, wo du herkommst und nur zählt, wo du hinwillst. Und Punkte wie die Sonntagsöffnung von Geschäften, die Legalisierung von Cannabis und die Abschaffung von Paragraph 219a Strafgesetzbuch, der Werbung für Abtreibungen unter Strafe stellt.

Du bist in Brandenburg aufgewachsen, deine Mutter ist Frisörin: Zwei Merkmale, die man bei FDP-Politikern selten bis sehr selten findet. Warum bist du trotzdem zur Liberalen geworden?

Weil ich die Freiheit mag. Ich kann unabhängig davon, was meine Mama macht, werden, was ich möchte. Der Liberalismus legt mir wegen meiner Herkunft keine Steine in den Weg.

"Ich glaube, dass die FDP seit 2017 wieder voll in den Akademiker-Polit-Sprech reingerutscht ist."

Es gibt eine Forsa-Umfrage aus dem Sommer 2020, nach der 42 Prozent der Erstwähler zwischen 18 und 20 die Grünen wählen, nur vier Prozent die FDP. Was müsste die Partei tun, um das zu ändern?

Ich glaube, dass die FDP seit 2017 wieder voll in den Akademiker-Polit-Sprech reingerutscht ist, den sie vor der Wahl 2017 nicht hatte. Das war damals ja auch die Ansprache, die mich zur Partei gebracht hat. Das wirkte jung und attraktiv für mich. Momentan geht das ein bisschen verloren, unsere Ansprache wirkt elitär. Und so ist die FDP nicht.

Woran machst du diese Änderung zum Schlechten fest?

Man hatte 2017 diese sehr jung wirkende Kampagne. Und man hat die Inhalte niedrigschwellig vermittelt, verständlich und ansprechend. Und wenn ich heute manche unserer Politiker reden höre, dann schalte ich nach zwei Minuten ab, weil die Person dann immer noch im selben Satz steckt.

Fällt dir da eine konkrete Rede von jemandem ein?

Gerade gar nicht. Ich denke, in diesen Modus verfällt gerade jeder ein bisschen.

Du positionierst dich auf Social Media klar gegen Rechtsextremismus, in einem Artikel in der "Zeit" wurdest du als Beispiel für eine neue sozialpolitische Strömung in der FDP genannt. Braucht die FDP wieder einen stärkeren linksliberalen Flügel?

Die FDP braucht alle Flügel, damit sich jeder wohlfühlt und seine Inhalte einbringen kann. Dann wird wie in jeder demokratischen Partei darüber beratend entschieden. Und wenn die Mehrheit der Partei deine Ideen doof findet, dann musst du damit leben.

"Ich glaube, die FDP sollte vielleicht die Wirtschaftsthemen mal hinten anstellen."

Ich versuche es nochmal: Bräuchte es ein stärkeres Gegengewicht zum Wolfgang-Kubicki-Flügel der FDP?

Persönlich fände ich das besser, ja. Ich glaube, die FDP sollte vielleicht die Wirtschaftsthemen mal hinten anstellen und sich insgesamt thematisch breiter präsentieren. Das machen weltweit viele liberale Bewegungen so und fahren damit ziemlich gut. Wir müssen auch empathisch kommunizieren und uns stärker um Menschen kümmern – auch, wenn Wirtschaft natürlich eng mit Menschen verbunden ist.

Hast du ein Vorbild in der FDP?

Gar nicht. Ich mach' gerade mein Ding, nach dem Motto: Let's see what happens.

Du bist mit 17 zur Mitarbeiterin des Bundestagsabgeordneten Jens Brandenburg geworden, jetzt bist du Bundestagskandidatin, außerdem Social-Media-Beauftragte der Jungen Liberalen, der Julis. Wie hast du so einen schnellen Einstieg in die große Politik geschafft?

Ich glaube, ich hatte sehr viel Glück. Ich habe viele Leute getroffen, die mich einfach ins kalte Wasser geschubst haben und gesagt haben: "Hey, probier's!" Ich hatte Social Media schon vor der Landtagswahl 2019 in Brandenburg für die FDP gemacht, weil mir jemand gesagt hatte: "Wir brauchen jemanden, probier' dich dran, ich glaube, dass du das kannst." Auf Basis dessen wurde ich dann Jens Brandenburg als Social-Media-Mitarbeiterin vorgeschlagen. Dann gab es ein paar Presseartikel über mich im Sommer 2020, dann kam die Fraktion auf mich zu und sagte: "Wir hätten da was, wenn du suchst."

"Wenn die Partei nur in Lob schwimmt, wäre das doch blöd."

Auf Twitter und in Interviews übst Du immer wieder ziemlich offene Kritik auch an der eigenen Partei, zum Beispiel nach der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD. Ist dir das schonmal auf die Füße gefallen?

Nee, bis jetzt nicht. Ein gewisses Maß an Kritik an der eigenen Partei ist auch gut, finde ich. Wenn die Partei nur in Lob schwimmt, wäre das doch blöd.

Aber dir hat noch nie jemand gesagt: Lass' das bleiben, mach' das lieber intern?

Nö, gar nicht.

"Ich will gewählt werden, weil man denkt, dass ich kompetent genug bin. Nicht, weil jemandem einfällt: "Oh verdammt, wir brauchen jetzt noch eine Frau für den Vorstand."

Die FDP bemüht sich seit Jahren darum, Frauen stärker einzubinden. Wenn man auf die Parteispitze und in den Bundestag schaut, wo der Frauenanteil der Fraktion bei nur 22,5 Prozent liegt, ist der Erfolg eher mäßig. Warum ist das so?

Ich glaube, das fängt schon beim ersten Kontakt am Stammtisch an. Da triffst du oft nur ältere Herren, das ist schon oft ein ungutes Gefühl. Vor allem, wenn du dann auch noch Leute triffst, die eher auf junge Menschen herabblicken.

Hast du das selbst erlebt?

Ich persönlich nicht. Aber ich höre das von anderen Frauen, die sich bei uns engagieren wollen.

Du sprichst dich trotzdem, wie eine Mehrheit der Jungen Liberalen, gegen eine Frauenquote aus.

Ich will gewählt werden, weil man denkt, dass ich kompetent genug bin. Nicht, weil jemandem einfällt: "Oh verdammt, wir brauchen jetzt noch eine Frau für den Vorstand." Ich will keine Notlösung für etwas Vorgegebenes sein.

Aber Linke, Grüne und SPD, die sich für eine Quotierung entschieden haben, haben über die Jahrzehnte einigen kompetenten Frauen nach vorne geholfen, die es ohne Quote wahrscheinlich nicht geschafft hätten.

Klar. Aber es sind auch weniger kompetente Frauen nach oben gekommen. Für mich ist der bessere Ansatz, Frauen in den Parteien besser zu fördern. Damit erreicht man mehr als mit einer Quote. Es passiert ja immer noch oft, dass Frauen gegen Frauen kandidieren, obwohl das unnötig ist. Da müsste man eher was in der Kultur der Parteien ändern.

Was hast du dir gedacht, als du gehört hast, wie Christian Lindner beim vergangenen FDP-Parteitag zur scheidenden Generalsekretärin Linda Teuteberg den Satz gesagt hat, die beiden hätten "ungefähr 300-mal den Tag zusammen begonnen" – was viele als sexistische Aussage verstanden haben?

Ich hab' das gelesen und fand die Aufregung übertrieben. Ich meine, wie oft versprechen wir uns und merken dann, wie dämlich das gerade war.

"Ich glaube nicht, dass die FDP ein Sexismus-Problem hat."

Du siehst darin also kein Symptom für ein Sexismus-Problem?

Ich glaube, jede etablierte Partei hat Probleme damit, Frauen anzuwerben. Aber ich glaube nicht, dass die FDP ein Sexismus-Problem hat.

Ist dir Sexismus in deiner bisherigen Zeit in der Politik begegnet?

Klar. Die Sichtbarkeit auf Social Media trägt dazu bei, dass dir immer wieder Menschen Dinge schreiben wie "Mach' doch erst einen Abschluss und such' dir einen Mann". Und du denkst dir nur: Ich lebe nicht im Jahr 1940, danke der Nachfrage.

Belastet Dich das?

Gar nicht. Ich finde Menschen, die sich so äußern, einfach saudämlich. Warum sollte ich das an mich heranlassen?

Du gehst auf Social Media relativ offen damit um, dass Du gegen Depressionen kämpfst und nutzt das, um politische Forderungen nach besserer Betreuung psychisch Kranker zu fordern. Warum hast Du Dich für diesen offenen Umgang entschieden?

Ich hab' damit Mitte vergangenen Jahres, in der Pandemie, begonnen, weil meine Therapie nicht weitergehen konnte. Ich brauchte irgendein Ventil. Ich hätte das immer derselben Person erzählen können, mit der ich darüber spreche – aber die kennt meine Situation ja schon auswendig. Dann habe ich angefangen, darüber zu twittern. Auch, weil ich denke, dass zu Hause sitzen und dich dafür schämen, dass du gerade eine schlechte Phase hast, nicht der richtige Umgang damit ist. Und vielleicht schaffe ich mit meinen Äußerungen ein Bewusstsein für die Krankheit und mache anderen klar, dass man sich nicht dafür schämen muss.

"Auf einen Angreifer kommen bei mir immer 20 Leute, die mir sagen: Das ist voll cool, mach' das bitte weiter so."

Beziehung, Freundschaften, Gefühle: Allgemein gibst du auf Social Media sehr viel von dir preis, so wie das viele junge Menschen tun. Willst du das ändern, wenn es für dich in der Politik weiter nach oben geht?

Nö, absolut nicht. Es gibt No-Gos, Dinge, über die ich nichts öffentlich mache. Aber grundsätzlich gehört diese Offenheit einfach zu mir.

Du machst dich aber angreifbar damit, für Menschen, die Dich auf Social Media attackieren wollen und später vielleicht für politische Gegner.

Natürlich. Aber auf einen Angreifer kommen bei mir immer 20 Leute, die mir sagen: Das ist voll cool, mach' das bitte weiter so.

Steckt dahinter ein anderes Verständnis, wie ein Politiker sein soll? Zurück zu Anna Lührmann: Die sagte in dem Interview über ihre Zeit im Bundestag, sie sei in den Politikersprech verfallen aus Angst davor, Fehler zu machen. Ist Fehler machen heute für jüngere Politiker eher okay als vor 20 Jahren?

Für mich ist es völlig okay, Fehler zuzugeben. Und Unwissenheit ist kein Makel. Beides finde ich überhaupt nicht schlimm.

Mode ist ein wichtiges Thema. In einem Interview mit einem Berliner Lokalblatt hast du gesagt: "Ich glaube, modisch bräuchte Politik mehr Billie Eilish". Warum ist das aus deiner Sicht wichtig?

Weil es einfach recht seicht aussieht momentan: die Herren fast alle im Anzug, die Frauen mit Kleid oder Blazer. Wenige fallen da angenehm auf. Ich finde, mehr Individualismus und ein bisschen weniger Etikette täten dem Hohen Haus gut.

Das Gegenargument ist: Der Bundestag ist ein Verfassungsorgan. Ist doch logisch, dass Menschen sich dort eleganter anziehen.

Klar, die Würde des Hauses muss jeder achten. Aber die Mitarbeiter der Abgeordneten laufen ja auch mit Hoodie und Jeans herum. Dann können Abgeordnete das auch.

Würde das dazu beitragen, dass jüngere Menschen sich stärker mit dem Bundestag identifizieren?

Vermutlich schon. Für viele heißt Politik: staatsmännische Anzugträger, die permanent am Pult stehen. Das geht anders.

Nach Wahl in Georgien ruft Präsidentin Surabischwili zu Massenprotesten auf

Nach der Parlamentswahl in Georgien hat die proeuropäische Präsidentin Salome Surabischwili für Montagabend zu Protesten gegen den erklärten Wahlsieg der nationalkonservativen Regierungspartei Georgischer Traum aufgerufen. Surabischwili sagte am Sonntagabend in Tiflis, sie erkenne das mutmaßlich verfälschte Ergebnis nicht an. "Wir sind Zeugen und Opfer einer russischen Spezialoperation geworden", sagte sie.

Zur Story