Ein Demonstrant wird in Shanghai in ein Polizeiauto gezwängt.Bild: Anonymous/AP
Interview
Die Zero-Covid-Politik in China sorgt für seltene Bilder: Tausende Menschen demonstrieren gegen die Regierung. Staatspräsident Xi Jinping drohe nun ein Gesichtsverlust, sagt China-Experte Brian Carlson.
29.11.2022, 12:0229.11.2022, 12:04
Dennis Frasch / watson.ch
Herr Carlson, gibt es in China ein Recht zu demonstrieren?
Brian Carlson: Nein, definitiv nicht. China ist ein Einparteienstaat und die kommunistische Partei (KPCH) hat große Kontrolle über die politische Meinungsäußerung im Inland. Wir haben 1989 auf dem Tian’anmen-Platz gesehen, was passiert, wenn Proteste über das Maß hinausgehen, welches die KPCH bereit ist zu tolerieren.
Die jetzigen Demonstrationen bewegen sich also noch in den Grenzen dessen, was die Partei zu dulden bereit ist?
In Shanghai gab es kürzlich eine Demo. Am nächsten Tag war die Straße komplett blockiert. Videos und Fotos der Proteste werden auf den chinesischen Social-Media-Apps sofort gelöscht. Es gibt auch erste Videos, die Gewalt gegen die Demonstrierenden zeigt. Die Proteste werden also jetzt schon nicht geduldet. Es stellt sich mehr die Frage: Wie lange geht es noch, bis man auf härtere Maßnahmen zurückgreift?
Im Vergleich zur Gesamtpopulation Chinas demonstrieren bis jetzt nur sehr wenige Menschen.
Aber in vielen verschiedenen Städten. Da ist Xinjiang, wo 10 Menschen eingesperrt in einer brennenden Wohnung umkamen. Die Behörden leugnen dies zwar, aber die Menschen sind wütend. Weitere Proteste gab es in Peking, Shanghai, Chengdu und Wuhan. Sie haben zwar recht, da waren jeweils nur wenige Hundert Menschen auf den Straßen. Im Vergleich zu den 1,4 Milliarden Einwohnern ist das nichts. Ich denke dennoch, dass die Proteste ein ernst zu nehmendes Zeichen der Ermüdung und der Unzufriedenheit mit der Zero-Covid-Strategie der Regierung sind.
"Xi kann niemandem mehr die Schuld geben, ausser sich selbst. Das kann er nicht zulassen."
Wie organisieren sich diese Protestgruppen in Chinas Überwachungsstaat?
Man muss kreativ werden. Die Regierung ist sehr gut darin, online organisierte Aktionen zu unterbinden. In Shanghai war die Demonstration als Gedenkfeier für die verbrannten Menschen aus Xinjiang gedacht, nicht mehr. Und zu Beginn war es das auch. Plötzlich wurde daraus aber ein Protest. Es ist aber natürlich auch möglich, über ein VPN den chinesischen Überwachungsapparat zu umgehen.
Hat sich die KPCH verrannt mit ihrer Covid-Politik?
Ja, absolut. Natürlich konnte man die Todeszahlen niedriger halten als anderswo. Aber nur zu einem enormen Preis für die Wirtschaft und den Broterwerb und die Lebensqualität der Menschen. Der Westen lernt gerade, mit dem Virus zu leben. China geht immer noch davon aus, dass sie das Virus ausrotten können. Die Erfahrung der letzten drei Jahre zeigte jedoch, dass dies nicht möglich ist.
Glaubt China wirklich noch an ihre Zero-Covid-Politik?
Ich weiß nicht, ob sie ihre Strategie noch für die richtige halten. Es wäre aber sicher schwierig, jetzt den Kurs zu verändern.
Weil Staatspräsident Xi Jinping sonst sein Gesicht verlieren würde?
Genau. Xi hat gerade seine dritte Amtszeit angetreten und die oberen Ränge der Partei mit Loyalisten besetzt. Jetzt herrscht in China so etwas wie eine Ein-Mann-Herrschaft. Nun den Kurs zu ändern, würde einem Eingeständnis eines persönlichen Fehlers gleichkommen. Xi kann niemandem mehr die Schuld geben, außer sich selbst. Das kann er nicht zulassen. Seit drei Jahren behauptet er, dass Chinas Covid-Politik wirksamer sei als diejenige der westlichen Länder.
"Die Parteieliten könnten versuchen, Xi abzusetzen, wenn die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu gross wird."
Jüngste Proteste von geprellten Eigenheimbesitzern hat man mit Zugeständnissen gelöst. Ist Xi Jinping nicht pragmatisch genug, sich auch dieses Mal anzupassen?
Er muss es sein. Die soziale Unzufriedenheit nimmt zu. China muss einen Weg finden, um einigermaßen glimpflich aus diesem Schlamassel herauszukommen. Viele dachten, dass die Covid-Maßnahmen nach dem 20. Parteitag im Oktober gelockert werden würden. Dann stiegen die Fallzahlen aber. Jetzt muss Xi warten, bis der Druck der Öffentlichkeit weg ist. Ansonsten sieht er schwach aus.
Bekommt das Bild der kommunistischen Partei als stabiles, in sich gefestigtes Regime erste Risse?
Die Partei hat die Zügel fest in der Hand. Und sie haben einen mächtigen Sicherheitsapparat, der sehr gut darin ist, aufkeimender Protest zu blockieren. Klar, es gibt viele innenpolitische Probleme in China. Und ich glaube, die Partei macht sich darüber große Sorgen. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Partei ihre Macht in naher Zukunft verlieren wird. Xi Jinping könnte hingegen angreifbar werden. Die Parteieliten könnten versuchen, Xi abzusetzen, wenn die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu groß wird.
Mit weißen Blättern demonstrieren Bürger:innen in China gegen das Regime.Bild: AP / Zen Soo
Also gibt es innerhalb der Partei Machtkämpfe
Xi hat sich in den vergangenen zehn Jahren viele Feinde gemacht. Er führte eine Anti-Korruptionskampagne, die viele seiner Rivalen ins Visier nahm. Er stellte Leute anderer politischen Gruppierungen ins Abseits und beförderte solche seiner Fraktion. Es gibt also Streitigkeiten innerhalb der Partei, daran besteht kein Zweifel.
Es gibt auch keinen genauen Plan für Xis Nachfolge.
Nein, offenbar will er einfach auf Lebzeiten im Amt bleiben.
Das kann funktionieren, doch auch Xi wird dereinst sterben. Dann wird es Machtkämpfe geben innerhalb der Partei. Bis jetzt sieht es aber so aus, als könne Xi nichts etwas anhaben.
Sie glauben also nicht, dass die Proteste Xi gefährlich werden könnten?
Doch, wenn sie noch größer werden. Noch sind sie aber überschaubar.
Wie sehen ihre Prognose aus für die nächsten Monate?
Ich denke, die Proteste sind Anzeichen echter Unzufriedenheit. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Regierung deswegen ihren Kurs wechseln wird. Die Unzufriedenheit wird weiter wachsen, die Proteste zunehmen. Die Regierung wird radikaler werden müssen. Wir könnten in den nächsten Monaten einige hässliche Szenen erleben. Erreichen die Proteste ein ähnliches Ausmaß wie 1989, so würde es mich nicht wundern, wenn die Regierung mit gleicher Härte wie damals zurückschlägt.
Brian Carlson ist Experte für globale Sicherheit.Bild: zvg
Zur Person
Brian Carlson ist Leiter des Teams für globale Sicherheit am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Er promovierte in Internationalen Beziehungen an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies (SAIS) in Washington D.C. Er forscht zu den Beziehungen zwischen China und Russland und zur Aussenpolitik beider Länder. Er spricht sowohl Chinesisch als auch Russisch.
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