Watson: Frau Wissler, die Wahl für die neuen Fraktionsvorsitzenden wurde in den Herbst verschoben. Hatte niemand Bock auf den Job?
Janine Wissler: Bei der Wahl der Fraktionsspitze geht es um eine tragfähige Gesamtlösung. Natürlich gibt es Leute, die sich das grundsätzlich vorstellen können. Jetzt geht es darum, eine gute Lösung zu finden.
Zählen Sie dazu?
Ich würde eine andere Lösung präferieren. Wir haben mit der Partei viel vor und stehen vor einem Erneuerungsprozess. Da hielte ich es für sinnvoller, die Arbeit auf mehrere Schultern zu verteilen.
Sie sagten, vor der Partei liegt viel Arbeit. Googelt man "Die Linke", tauchen zahlreiche Artikel auf, die der Partei eine Krise attestieren. Wie wollen Sie von diesen Schlagzeilen wegkommen?
Die Linke wurde schon oft totgesagt. Wir können wieder erfolgreich sein, wenn wir uns auf unsere Aufgaben konzentrieren. Wir wurden gewählt, um unseren Job zu machen. Nämlich linke Opposition zur Ampelpolitik und den Menschen eine Stimme geben, die von der Regierung vergessen werden.
Haben Sie den Eindruck, dass die laute Stimme der Linken bei diesen Menschen ankommt – oder ist es eher die AfD, die überzeugt?
Viele Linke leisten gute Arbeit – sowohl im Bundestag, als auch in den Ländern und auf kommunaler Ebene. Dort gibt es konkrete Initiativen und Hilfsangebote vor Ort.
Aber?
Diese gute Arbeit und die politischen Inhalte werden überlagert von öffentlichen Äußerungen einiger weniger, die sich mehr an der eigenen Partei als an den gesellschaftlichen Verhältnissen abarbeiten. Das ist ärgerlich. Vor allem angesichts des Versagens der Ampel und dem Erstarken der Rechten.
Das DIW hat errechnet, dass die AfD gerade für arme und ärmere Familien den Ruin bedeuten würde.
In Sonneberg, wo der erste AfD-Kandidat zum Landrat gewählt wurde, arbeiten 44 Prozent der Menschen zum Mindestlohn. 12 Euro ist viel zu wenig, aber nicht mal diesen Mindestlohn hätte es mit der AfD gegeben. Die war nämlich gegen die Einführung. Diese 44 Prozent würden heute also zu noch deutlich niedrigeren Löhnen arbeiten, wenn die AfD damals etwas zu sagen gehabt hätte. Abgesehen davon, dass die AfD rassistisch und menschenverachtend auftritt, reden die Abgeordneten auch gar nicht über Kinderarmut oder Umverteilung von Reichtum, sondern hetzen gegen Minderheiten wie Geflüchtete, trans* Menschen und alle, die nicht in ihr rechtes Weltbild passen.
Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Jan Korte hat in einem Interview bei der "taz" gesagt, je geringer der Einfluss der Partei in der Gesellschaft sei, desto härter würden die inneren Kämpfe. Würden Sie das unterschreiben?
Wenn Parteien auf einer Erfolgswelle reiten, gibt es weniger interne Konflikte oder zumindest treten sie nicht so offen zutage. Aber gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, zusammenzustehen. Aktuell sind wir nicht nur als Partei, sondern als gesamte Gesellschaft in so einer schwierigen Situation, dass wir uns unterhaken und gemeinsam für Verbesserungen kämpfen sollten. Wenn wir heute nichts erreichen, werden wir dramatische Veränderungen erleben, bei denen nichts so bleibt, wie es ist.
Nicht?
Nein, denn wir sind gerade an einem gefährlichen Punkt, mit verschiedenen Krisen, die zu eskalieren drohen. Wir erleben eine soziale Krise, die Verschärfung der Klimakrise, Krieg und Aufrüstung und eine Krise der Demokratie. Ich kann mir nur an den Kopf greifen, wenn in dieser Situation Einzelne auf die Idee kommen, irgendwas neu zu gründen, statt gemeinsam gegen diese gesellschaftlichen Verhältnisse zu kämpfen.
Mit dem "Plan 2025" haben Sie sich vorgenommen, die Partei durch Einheit und Geschlossenheit zu stärken und so bei der Bundestagswahl abzusahnen.
Ein Teil des Problems ist es, dass die Partei nach außen oft zerstritten wirkt, obwohl es eigentlich eine große Einigkeit bei inhaltlichen Fragen gibt.
Ach ja?
Beim letzten Parteitag haben wir Anträge zur Klimagerechtigkeit und zum Frieden mit klarer Mehrheit beschlossen. Es ist nicht so, als würde mitten durch die Linke hindurch ein Riss gehen.
Einen Störfaktor, den Sie hier umschreiben, gibt es zur nächsten Bundestagswahl 2025 nicht mehr. Sahra Wagenknecht will nicht mehr antreten. Dafür überlegt sie, eine eigene Partei zu gründen. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?
Wissler zögert
Bislang gibt es weder eine Partei, noch Personal, noch ein Programm – die Zustimmungswerte in einigen Umfragen bilden ja nicht reale Wahlabsichten ab.
Sehen Sie in einer Abspaltung eine Chance für die Linke?
Wir sollten uns darauf konzentrieren, die Linke wieder erfolgreich zu machen, das andere liegt nicht in unserer Hand. Aber natürlich ist es ein Problem, wenn sich eine bekannte Person sehr stark gegen die eigene Partei positioniert.
Also lieber keine Wagenknecht-Partei?
Ich würde davon abraten, aber das muss sie selbst entscheiden. Jeder hat das Recht, eine Partei zu gründen. Aber nicht mit Mandaten der Linken. Grundsätzlich finde ich: Unser Job als Abgeordnete ist es, linke Politik auf Grundlage des linken Programms zu machen, dafür sind wir gewählt, und nicht, um über irgendwelche Neugründungen zu fantasieren.
Konzentrieren wir uns auf diese Aufgabe: Prinzipiell müsste man meinen, ist es die Time to Shine der Linken. Die Umfragewerte liegen aber zwischen vier und sechs Prozent. Wie wollen Sie die Menschen abholen?
Was ich wahrnehme, sind zunehmende Erschöpfung und Resignation in der Gesellschaft. Um das zu durchbrechen, müssen wir Alternativen aufzeigen, Mut machen, dass Veränderungen möglich sind und stärker mit unseren Visionen überzeugen.
Wie sieht Ihre Vision aus?
Ein praktisches Beispiel: Wir erleben durch Digitalisierung und wachsende Produktivität eine völlige Veränderung der Arbeitswelt. Das macht Menschen Angst. Wir brauchen heute weniger Arbeitsstunden für das gleiche Ergebnis. Das bedeutet: Die Hälfte wird entlassen, der Rest behält den Job und arbeitet genauso viel wie vorher. In einer gerechten Gesellschaft würde nicht die Anzahl der Beschäftigten halbiert, sondern die Arbeitszeit für alle. Und da Technik und Digitalisierung dazu führen, dass wir dadurch nicht weniger produzieren, lässt sich das auch bei vollem Lohnausgleich realisieren.
Das heißt, wir müssten wegkommen vom Turbo-Kapitalismus und der Idee des stetigen Wachstums und stattdessen bei dem Output bleiben, den wir heute schon haben?
Sie können auch gerne Turbo streichen. Es geht darum, wegzukommen von der kapitalistischen Form des Wirtschaftens. Die Frage darf in Zukunft nicht lauten: "Wo steigen die Dividenden?" Sondern: "Was brauchen die Menschen?" Und tatsächlich würde das immense Investitionen und neue zukunftsfähige Arbeitsplätze bedeuten.
Ach ja?
Würde Verkehrsminister Wissing zum Beispiel die Verkehrswende ernst nehmen, wäre das auch ein Konjunkturprogramm. Genauso wie der Ausbau von erneuerbaren Energien – all das schafft zukunftssichere und nachhaltige Arbeitsplätze.
Werfen wir einen Blick auf die anstehenden Landtagswahlen: SPD-Spitzenkandidatin Nancy Faeser geht in Hessen nun mit dem Plan einer Ampel-Koalition an den Start.
Das klingt ja eher nach einer Drohung. Wenn man auf die Bundespolitik schaut, sagt man sicher nicht: So eine Ampel möchte ich auch noch in Hessen haben. Eine aktuelle Meinungsumfrage hat ergeben, dass null Prozent der Befragten sehr zufrieden mit der Politik der Ampel sind. Ich bezweifle stark, dass die Forderung nach einer Ampel für Hessen ein Wahlkampfschlager ist.
Laut Ihrem "Plan 2025" will die Linke im kommenden Jahr zur Europawahl Gas geben. Haben Sie Hessen und Bayern schon abgeschrieben?
Nein. Wir haben das "Plan 2025" genannt, weil uns klar ist, dass wir Zeit brauchen, um Vertrauen aufzubauen und zurückzugewinnen. Wir wollen 2025 gestärkt in den Bundestag einziehen. Aber natürlich kämpfen wir bis dahin um jede Stimme in Hessen und Bayern und auch bei den anderen anstehenden Wahl im nächsten Jahr.