
Die SPD droht bei den Kommunalwahlen in NRW in vielen Städten gegen die AfD zu verlieren.Bild: imago images / Rene Traut
Interview
Die AfD hat bei den vergangenen Wahlen überall in Deutschland zugelegt. In manchen Regionen fällt ihr Erfolg jedoch stärker auf – etwa im Ruhrgebiet, dem ehemaligen Kernland der SPD. In Gelsenkirchen wirbt ein Sozialdemokrat vor der Kommunalwahl nun für "radikale demokratische Lösungen" – gegen die AfD und für seine Heimatstadt.
11.09.2025, 19:0811.09.2025, 19:08
Die in weiten Teilen rechtsextreme AfD könnte bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen große Zugewinne feiern. Besonders in manchen Wahlkreisen im Ruhrgebiet, ehemals Hochburg der SPD, droht die Partei sogar zu gewinnen – so auch in Gelsenkirchen.
Dort landete die in weiten Teilen rechtsextreme AfD bei der Bundestagswahl erstmals mit knappem Abstand vor der SPD. Doch woran liegt das?
watson hat dazu mit dem Gelsenkirchener SPD-Ratsmitglied Taner Ünalgan gesprochen. Er setzt sich vehement gegen das Aufbäumen rechter und rassistischer Politik in seiner Heimatstadt ein.
In seinem aktuellsten Instagram-Video sieht man ihn etwa auf einem Wagen in ein Mikro sprechen, er sagt "unsere Stärke", und meint damit wohl die SPD, sei Solidarität. Taner wirft Menschen gefährliche Geschichtsvergessenheit vor und ruft: "Wie blöd kann man sein?"
Seine Stimme ist dabei heiser, die rechte Hand zittert, die linke ist zur Faust geballt. "Musste mal raus", steht in der Caption zum Video.
watson: Taner, was ging in diesem Moment in dir vor?
Taner Ünalgan: Es lässt mich nicht kalt, was gerade passiert. Weltweit geschehen wirklich schlimme Dinge, und auch in Kommunen wie Gelsenkirchen haben wir keinen leichten Stand. Dass es mit der AfD eine Partei gibt, die bestehende Probleme nur nutzt, um Benzin ins Feuer zu gießen, macht mich wütend. Ein Pressesprecher der AfD sagte mal selbst: "Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD." Diese Haltung führt absehbar ins Verderben.
Dennoch fallen viele Menschen auf die AfD herein, nicht nur ihre Wähler:innen.
Sogar manche Leute mit Migrationshintergrund wählen die AfD oder kandidieren für sie. Die meinen dann, in schlechte und gute Ausländer unterteilen zu können. Aber die Idee, dass die AfD bei letzteren stoppt, halte ich für völlig falsch und naiv.
Und die demokratischen Parteien?
Auch Leute in den demokratischen Parteien – auch in meiner Partei – eifern teilweise der AfD nach, anstatt auf reale Probleme eigene, sozialdemokratische Antworten zu entwickeln und die Menschen von ihnen zu überzeugen. Das stärkt am Ende nur die AfD und hat keinen Nutzen.

Taner Ünalgan sitzt für die SPD im Gelsenkirchener Stadtrat.Bild: sophia dorra
Bei besagtem Auftritt hast du auf die fast 200 Nationen, die in Gelsenkirchen leben, hingewiesen. Wie sehr schmerzte vor diesem Hintergrund, dass die AfD bei der Bundestagswahl in Gelsenkirchen knapp vor der SPD lag?
Mein Wahlkreis ist genau da, wo ich aufgewachsen bin: Wo ich zur Kita gegangen bin, zur Grundschule, wo ich meine Freizeit verbracht habe und meine Freunde getroffen habe. Und wenn ich jetzt bei Hausbesuchen zum Teil höre "Hau ab, wir wählen ja alle blau, ihr hattet lange genug die Chance", dann schmerzt das auf jeden Fall.
Warum hat die AfD in der ehemaligen SPD-Hochburg Ruhrgebiet und speziell in Gelsenkirchen so großen Erfolg?
Gelsenkirchen ist eine finanziell arme Stadt. Wir haben hier eben nicht so viele Mittel wie anderswo. Und dann merken die Menschen natürlich, dass da was aus dem Lot geraten ist. Ungleichheit und Chancengleichheit sind hier besonders große Themen.
Inwiefern?
In Gelsenkirchen haben wir seit vielen Jahren strukturelle Probleme mit Arbeitslosigkeit, aber auch mit einer Zuwanderung aus dem Asylbereich und aus der europäischen Freizügigkeit bei gleichzeitig wenig Mitteln. Insgesamt erhalten wir keine angemessene, ausreichende Unterstützung von EU, Bund und Land. Ich halte die Errungenschaft der Europäischen Union für großartig, aber wenn wir damit einhergehende Probleme nicht lösen, stellt die AfD die europäische Idee infrage und gibt vermeintlich einfache Antworten, wie "Remigration", die letztendlich menschenunwürdig und realitätsuntauglich sind.

Die AfD hat in Gelsenkirchen hohe Sympathiewerte.Bild: imago images / NurPhoto
Früher wäre das im Ruhrgebiet einfacher gewesen ...
Früher hatten wir übermäßig viele Arbeitsplätze, was auch ein großer Integrationsfaktor war. Heute machen wir schon viel, aber der Stellenaufwuchs etwa beim Ordnungsdienst oder der Müllentsorgung ist endlich. Zusammen mit dem Land NRW reißen wir derzeit Schrottimmobilien, die eigentlich nicht mehr bewohnbar sind, ab. Nicht nur, um das Stadtbild zu ändern, sondern auch um Kriminalität von Leuten, die diese Immobilien zu überteuerten Preisen an zu viele Leute pro Wohneinheit, auch Zugewanderte, vermieten, zu verhindern.
Aber das kann doch nicht die einzige Lösung sein?
Am Ende ist die Frage: Lösen wir die Probleme als Demokraten? Wenn wir wollen, dass wir eine offene Gesellschaft sind, die zusammenhält, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass die Menschen nicht gleichzeitig Angst haben, etwas zu verlieren und dass ihre Kinder die Chance haben, etwas aufzubauen. Und wenn bestimmte Kommunen besondere Belastungen haben, dann muss man die auch in besonderem Maße unterstützen, um Gerechtigkeit oder Gleichwertigkeit herzustellen – wie sie auch das Grundgesetz fordert.

Gelsenkirchen hat eigentlich den Ruf, nicht besonders schön zu sein, dabei hat es einiges zu bieten: Industriegeschichte, der S04, eine schöne Skyline.Bild: imago images / zoonar
Gerechtigkeit herzustellen, hat die SPD nach dem Strukturwandel im Ruhrgebiet, in ihrem Kernland, für viele Wähler:innen nicht zufriedenstellend geschafft.
Die ganze Region war reich, hat sich Theater, Zoos und Straßenbahnen gebaut. Auch aufgrund politischer Entscheidungen gingen so viele Arbeitsplätze verloren, Menschen wussten nicht, wohin mit sich und ihrer Zukunft. Unser Aufstiegsversprechen ist unter die Räder geraten. Das hat Ängste geschürt, die nicht ausreichend aufgefangen wurden. Die Art und Weise, wie auch wir manche Sach- und Personalentscheidungen treffen, ist Teil des Problems.
Und jetzt?
Jetzt helfen keine Reförmchen mehr. Die AfD ist aber leider oft die einzige Partei, die radikale Lösungen vorschlägt – aber politisch falsche und realitätsuntaugliche. Wir brauchen jetzt wieder eine optimistische Zukunftserzählung und eine Perspektive mit radikalen demokratischen Lösungen, an denen wir gemeinsam arbeiten.
Was wäre denn eine radikale Lösung, die Gelsenkirchen und dem Ruhrgebiet helfen würde?
Eine kommunale Altschuldenregelung oder etwa die Ausweitung des Solidaritätszuschlags: Egal ob im Osten, Westen, Norden oder Süden, für alle Städte und Regionen, die entsprechende Hilfe benötigen, könnte es einen solchen Soli geben. Außerdem leiden unser Bildungssystem, das Rentensystem, das Gesundheitssystem darunter, dass es überall unterschiedliche Strukturen und eigene Apparate gibt. Das ist doch verrückt, dass wir uns das leisten.
Was würde sich dadurch ändern?
Wenn es den Menschen gut geht, wenn sie das haben, was sie auch brauchen, wenn es fair und gerecht zugeht, dann sind wir auch stärker. Wir brauchen Signale in unsere Region, dass die Menschen nicht allein gelassen werden.
Und was macht ihr vor Ort?
Da versuchen wir, die drohende Katastrophe zusammen abzuwenden und mit dem Aufstiegsplan unserer Oberbürgermeisterkandidatin eine positive Perspektive aufzubauen. Trotz begrenzter Mittel investieren wir in Kultur, Infrastruktur und Bildung. Wir haben Projekte wie den Bildungscampus, der Bildungseinrichtungen, Berufsschulen, Gewerkschaften, Universitäten und Arbeitgebern zusammenbringt, um die Übergänge für junge Menschen zu erleichtern.
Wie versucht ihr, speziell junge Menschen von euch zu überzeugen?
Gute Schulen, gute Arbeitsplätze, bezahlbare Mieten, eine ordentliche Stadt, in der wir zusammenhalten. Wir haben als bisher einzige Stadt im Ruhrgebiet die Kita-Gebühren abgeschafft, das ist auch ein Signal an junge Eltern. Wir versuchen jungen Menschen, mit unserer Politik zu sagen: Ihr müsst nicht wegziehen aus Gelsenkirchen, wenn ihr ein gutes Leben aufbauen wollt.