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"Reichsbürger"-Experte Tobias Ginsburg im Interview: "Perfide as Fuck"

Tobias Ginsburg ist undercover-Journalist. Im Oktober 2021 veröffentlichte er sein neues Buch "Die letzten Männer des Westens"
Tobias Ginsburg schleicht sich seit Jahren in rechtsextreme Kreise und schreibt darüber.Bild: Rowohlt Verlag / Jean-Marc Turmes
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"Reichsbürger" ködern Jugendliche – Tobias Ginsburg: "Perfide as Fuck"

Nach der Razzia im "Reichsbürger"-Milieu ist der investigative Autor Tobias Ginsburg wütend: "Hört auf, euch auf die ermordeten Juden einen runter zu holen – und sprecht über die Täter!", sagt er im Interview mit watson.
18.04.2023, 15:41
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Watson: Tobias, in deinem Buch "Reise ins Reich" schilderst du, wie Rechtsextremist:innen und Reichsbürger:innen die Jugend durch Popkultur anlocken. Wie funktioniert das?

Tobias Ginsburg: Zuerst einmal glaube ich, dass man, wenn man über Reichsbürger spricht, diese Vorstellung von kuriosen Extremisten hat. Die Leute, über die man kurze Beiträge im Fernsehen machen kann. De facto ist aber das rechte verschwörungsideologische Milieu wahnsinnig breit. Das geht von klassischen Neonazis über abgefahren antisemitische Normies bis hin zu Esoterikern und New-Age-Ökos.

"Ich sehe, wie Leute da rein stolpern, ohne zu begreifen, was das bedeutet. Gerade bei jungen Leuten tut das immens weh."

Für jeden also etwas dabei.

Klar. Und mir geht es besonders darum, zu begreifen: Was ist die Attraktivität von dem, was von außen so skurril wirkt? Man begreift irgendwann: Verschwörungstheorien machen dein Leben einfacher, geben dir eine klare Vision. Den Kampf von gut gegen böse, schlecht gegen richtig, oben gegen unten. Und dann sehe ich, wie Leute da rein stolpern, ohne zu begreifen, was das bedeutet. Gerade bei jungen Leuten tut das immens weh. Gleichzeitig ist es für diese Menschenfresser, Menschenjäger, Scharlatane ein beliebtes Ziel, möglichst junge Anhänger und Anhängerinnen zu finden.

Warum gerade junge Menschen?

Zum einen macht das die Bewegung lebendiger und moderner. Gerade in der Reichsbürger-Szene werden sehr viele ältere, frustrierte Menschen erreicht. Leute, die das Gefühl haben, ihnen wurde ihr ganzes Leben lang nur Schlechtes angetan. Jetzt kommt die Erklärung: die große Verschwörung. Diese Menschen sind also schon grumpy – aber damit eine Bewegung zu starten, ist schwierig.

Und zum anderen ...?

... ist der Versuch attraktiv, junge Menschen zu finden, denen du ein komplett ideologisches Weltbild indoktrinieren kannst. Und das gilt für jede Art von Menschenfressern.

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Wirre Aluhutträger:innen gelten noch immer als Aushängeschild der rechten Szene – dabei ist das Milieu viel breiter. Bild: ZUMA Wire / Sachelle Babbar

Wie meinst du das?

Das gilt für die Demagogen, die politisch wirklich was bewirken wollen und eben auch für die Scharlatane, die bloß Geld und Einfluss wollen. Leider spielt bei jungen Menschen sehr oft eine gewisse Naivität mit. Nicht mal Dummheit, nicht Ungebildetheit – einfach nur totale Naivität. Und das macht mich so wütend.

Dass junge Menschen manipuliert werden?

Nein. Dass wir, wenn wir von Verschwörungsideologen und Reichsbürgern sprechen, immer so tun, als wären die so harmlos, so albern und irgendwie nur heruntergekommen. Je harmloser sie wirken, desto harmloser wirken sie auch auf die Leute, die da reinstolpern. Und so eine Radikalisierung geht irre schnell. Dann triffst du eben kleine Jungs, die ein paar psychische Probleme hatten und dann zum Guru finden. Und nach vier Monaten lesen sie hardcore antisemitische Literatur und glauben, die BRD ist ein Lügenkonstrukt und gehört bekämpft.

Du hast ja auch Zeit mit Hip-Hoppern verbracht, die diese Ideologie verbreiten. Das ist ja schon eine perfide Art, junge Menschen zu ködern, oder?

Ja, das liegt doch auf der Hand, oder? Nazi-Hip-Hop klingt zwar erst mal albern. Eine Musik, die von schwarzen amerikanischen Männern stammt, Gangsterrap in Deutschland, der migrantisch geprägt ist – wie kann das plötzlich zu einem Tool für Rechtsextreme werden?

Ja – wie?

Zum einen ist Rap Pop. Es ist die größte Musikrichtung, die es gibt. Und zum Zweiten hast du im Rap und im Pop ein total ekliges Männlichkeitsbild. Ich könnte jetzt über Kollegah sprechen oder über Rammstein oder über einen österreichischen Schlagerstar, der von Burschis und Mädels spricht. Und das ist das Problem: Im Pop hast du reaktionäre, gefährliche Geschlechterrollen, politische Vorstellungen von vorvorgestern. Ideen, dass wahre Stärke einfach nur aufs Maul geben ist.

"Wenn wir die Leute fragen, was Faschismus ist, haben die allermeisten keine Ahnung."

Wie passt das mit Nazi-Rap zusammen?

Diese Rapper können schlicht und ergreifend copy-pasten: Eben das, was irgendwelche ekligen Alman-Gangsterrapper von sich geben – Vorbilder sind dann Fler oder Kollegah. Alles, was sie austauschen müssen, ist die Sehnsucht nach goldenen Schallplatten und Goldkettchen, mit der Sehnsucht nach einem weißen Ethnostaat.

Wie gefährdet würdest du Jugendliche hier einschätzen?

Ultra! Und das liegt nicht an den Jugendlichen.

Sondern?

Es liegt daran, dass die Art und Weise, wie wir Aufklärungsarbeit machen, fürchterlich ist und nicht ausreicht.

Dass man an die Schulen gehen soll und über Verschwörungsmythen aufklären soll, höre ich aber auch schon seit Jahren.

Die Forderung, an die Schulen zu gehen und im Religionsunterricht über Esoterik aufzuklären, das ist mir auch zu klein. Meine Forderung ist ein bisschen größer, aber ich glaube, sie ist naheliegend: Wir sind Deutschland. Wir bestehen aus so vielen gut gemeinten Mantras. "Keinen Zentimeter den Antisemiten", "keinen Millimeter nach rechts", "nie wieder". Wir haben so viele Mantras in petto. Aber wenn wir die Leute fragen, was eigentlich Faschismus ist, haben die allermeisten keine Ahnung.

12.04.2018, Berlin: Die Rapper Kollegah (l) und Farid Bang kommen zu der 27. Verleihung des Deutschen Musikpreises Echo. Foto: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Rapper wie Kollegah verkörpern auch heute noch ein veraltetes Männlichkeitsbild.Bild: dpa-Zentralbild / Britta Pedersen

Wie willst du das ändern?

Wir müssen den Leuten schlicht und ergreifend erklären, was Oma und Opa, was Uroma und Uropa geglaubt haben. Nazis sind vieles, aber nicht originell. Es sind die immer gleichen Ideen, die immer gleichen Narrative. Wir müssen diese Kontinuität aufzeigen. Ganz ehrlich: Ich treffe irgendwelche Kiddies, die stolpern da rein, checken das nicht und sagen: "Ich bin doch kein Nazi. Ich hasse doch keine Ausländer und ich bin doch nicht böse." Und ich kann ihnen keinen Vorwurf machen.

Wieso nicht?

Geh mal auf eine Demo gegen rechts und frag die Leute, was ein Nazi ist. "Ja, die hassen Ausländer und sind irgendwie böse." Aber dahinter sind Narrative, dahinter sind Geschichten und die sind alt. Die Sehnsüchte sind in keinster Weise neu. Aber statt aufzuklären, liest man in der Schule das 300. Mal "Anne Frank" und versucht sich mit den Opfern von damals zu identifizieren. Und tut dabei so, als hätte man mit den Tätern nichts mehr zu tun.

Aber was willst du denn konkret ändern?

Ich höre immer wieder: "Wir machen zu viel Nationalsozialismus in der Schule." Und das mag auch sein. Vielleicht müssen wir nicht lernen, wann welcher Panzer über welche Grenze gefahren ist. Was wir machen müssen, ist ausschließlich über die Inhalte zu sprechen, also die Ideologie. Lasst Jahreszahlen weg! Wie funktioniert Antisemitismus? Was ist die Basis dafür? Wie konnte es so weit kommen, dass Menschen zu Mördern wurden? Und ganz wichtig: Was ist Faschismus? Das ist eine Frage, die in der Schule nicht geklärt wird.

Und du glaubst, damit könnte man diese hinterlistige Art der Nazi-Rapper und Rechts-Ikonen aufdecken? Schließlich wird hier erst einmal mit Gesichtern gearbeitet. Diese Menschen werden zu Vorbildern und dann können sie alles sagen, was sie wollen – man glaubt es ihnen.

Ja, es ist perfide as fuck. Diese Nazi-Rapper und Eso-Reichsbürger arbeiten mit Ästhetiken und holen die Kids damit ab. Die werden immer eine Art finden, um Leute zu erreichen. Was wir brauchen, ist basale Arbeit. Kennst du "Die Welle", die man in der Schule lesen muss?

Das Buch "Die Welle"
"Die Welle" wird in der Schule als Aufklärungslektüre genutzt.Bild: watson / Josephine Andreoli

Ja klar.

Was ist das für ein dummer Scheiß? "Ja, das war Massenhysterie? Das haben alle gemacht, deshalb haben alle mitgemacht". Nein, das war es nicht! Es waren Narrative, es waren in sich geschlossene Vorstellungen. Es war die Vorstellung von einem starken Führer mit einer großen Hierarchie. Der bringt uns dazu, dass wir in eine untergegangene, starke Nation zurückkommen, die uns genommen wurde von inneren und äußeren Feinden. Macht das endlich klar! Hört auf, über die Opfer zu reden und euch auf die ermordeten Juden einen runter zu holen – und sprecht über die Täter!

Viele sagen aber, man will den Tätern den Raum nicht geben.

Dann sollen die dann bitte die nächsten Opfer der Nazis begraben.

Du bist echt wütend.

Ich bin stinksauer! Ja, jetzt wurden eben diese Reichsbürger hops genommen und man feiert sich dafür. Aber was ändert das? Ich kann mir immer wieder den Mund fusselig reden und nachher werden die Leute wieder nur diese Mantras aufsagen. "Keinen Millimeter nach rechts." Und am Ende wird trotzdem wieder die AfD gewählt.

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